Lücken im Archiv

Jeder Ort hat eine Geschichte zu erzählen. Ob daran erinnert wird und was gesellschaftlich sichtbar bleibt, ist immer auch eine Frage von Machtverhältnissen. Eine Spurensuche durch Berlin.

An dieser Stelle am OSI wurden menschliche Knochenreste gefunden, die aus den Beständen des ehemaligen KWI-A stammen. Foto: Ella Rendtorff.

Früher Vormittag, die U3 in Richtung Krumme Lanke schließt mit einem Piepen die Türen und hinterlässt einen Schwarm von Studierenden auf dem Bahnsteig. In Gedanken schon bei der bevorstehenden Veranstaltung, strömen sie Richtung FU: von Dahlem-Dorf über die Takustraße bis zum Henry-Ford-Bau, dann durch die Ihnestraße zum Hörsaal. Wege, die viele Studierende und Beschäftigte der FU täglich gehen. Mit den Gedanken in der Gegenwart und den Blick gen Zukunft gerichtet, bleibt die Vergangenheit der täglich passierten Gebäude und Straßen in den meisten Momenten unsichtbar.

Rassistische Forschung made in Dahlem

Bei genauerem Hinsehen entdeckt man neben dem Haupteingang des Otto-Suhr-Instituts in der Ihnestraße 22 eine bronzefarbene Gedenktafel: „In diesem Gebäude befand sich von 1927 bis 1945 das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik, kurz KWI-A. Unter der Leitung von Eugen Fischer und Otmar von Verschuer wurden hier biomedizinische Forschungen und Versuche zur Legitimation einer vermeintlichen ‘Rassenhygiene’ unternommen, die in enger Verbindung mit dem nationalsozialistischen Regime und der deutschen Kolonialgeschichte stehen.

Die Forschenden des Projekts Geschichte der Ihnestraße 22 haben es sich zur Aufgabe gemacht, die Erinnerung an die gewaltsame Vergangenheit der Wissenschaft in Dahlem zu stärken. Politikstudentin Danna Marshall arbeitet im Rahmen des Projekts an der Konzeption einer Ausstellung mit, die im und um das Institutsgebäude installiert werden soll. Ziel sei es, die problematische Geschichte dieses Ortes sichtbar zu machen und die Erinnerung daran in den Studienalltag zu integrieren. An der Geschichte des Gebäudes zeigt sich, laut Danna, dass Verbindungen zwischen Kolonialgeschichte und Nationalsozialismus bestehen und welche historische Kontinuitäten es hier gibt.

An wen oder was erinnert wird und welche Perspektive sich über die Zeit festschreibt, hängt von gesellschaftlichen Machtverhältnissen ab. Wie ein Umgang damit aussehen könnte, wird seit einigen Jahren in der Öffentlichkeit sowie in der Wissenschaft diskutiert. FU-Historiker Marc Buggeln beschreibt das Bemühen um eine gleichwertige kollektive Erinnerung an verschiedene Ereignisse mit dem Begriff der ‘multidirektionalen Erinnerung’. Dieser theoretische Ansatz solle ermöglichen, „unterschiedliche Formen von Erinnerungen an historische Ereignisse in ihrer Verschränktheit zu denken”. Dies wird auch am KWI-A deutlich. Um die Erinnerung an vorbelastete Orte wachzurütteln, bedarf es aber nicht nur theoretischer Überlegungen: Letztendlich, so Marc Buggeln, hänge es davon ab, ob die Zivilgesellschaft sich für die Geschichte eines Ortes interessiere und ob es Menschen gebe, die sich dafür stark machten, an diese zu erinnern.

Was wäre, wenn…?

Perspektivwechsel – zurück in die U3, ein Umstieg und dann mit der Ringbahn bis zum Treptower Park. Hier, zwischen dichten Bäumen und einem angelegten Teich, ist mithilfe von zivilgesellschaftlichem Engagement ein solcher Erinnerungsort entstanden. Aufbauend auf einem Projekt der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland haben die Künstler*innen und Aktivist*innen Vincent Bababoutilabo und Joel Vogel einen interaktiven Hörspaziergang entwickelt. Dieser erinnert an die Geschichten von 106 Schwarzen Menschen, die sich 1896 aus den damaligen Kolonien für die erste deutsche Kolonialausstellung auf den Weg nach Berlin machten. Einen Sommer lang sollten sie im Treptower Park in eigens dafür errichteten Kulissendörfern leben und arbeiten. Als Schausteller*innen wurden sie dafür engagiert, den Besuchenden eine koloniale Inszenierung des Lebens und der Bräuche aus ihren Herkunftsländern zu bieten. Dabei wurden die Menschen sowohl auf exotisierende Weise zur Schau gestellt, als auch rassistischen anthropologischen Untersuchungen unterzogen. Im Hörspaziergang zurückERZÄHLT stellen Vincent und Joel die archivarisch übermittelte Geschichte auf den Kopf. Anstatt rassistisches Archivmaterial zu reproduzieren, werden hier individuelle Biographien laut. Der Hörspaziergang vermittelt so nicht nur historisch-koloniale Lebensrealität, sondern erzählt vielmehr eine Geschichte des Aufbegehrens.

Die Leerstellen als Ausgangspunkt für Geschichten zu nehmen, war für mich mit der stärkste Moment – Vincent Bababoutilabo

Was haben die Schausteller*innen in diesem Sommer erlebt, gesehen, gefühlt? Um diese individuellen Erinnerungen aus dem Schleier des kolonialen Archivmaterials zu befreien, haben Joel und Vincent auf die Methode des ‘kritischen Fabulierens’ zurückgegriffen. Entwickelt von der Historikerin und Literaturwissenschaftlerin Saidiya Hartmann, geht es hier darum, Lücken im historischen Material bewusst zu nutzen und so Raum für unerzählte Geschichte(n) zu schaffen. Angeleitet von der spekulativen Leitfrage ‘Was wäre, wenn…?’ werden überlieferte Puzzlestücke der Geschichte neu zusammengesetzt und weitergesponnen. Durch die Recherche für den Hörspaziergang konnten viele kleine und große Widerstandsakte der 106 Menschen rekonstruiert werden.

Die beiden erzählen eine der so entstandenen Geschichten: Die Materialien zur Kolonialausstellung im Treptower Park belegen, dass sich 1896 eine Gruppe von Menschen von Papua-Neuguinea aus per Schiff auf den Weg nach Berlin machte, um dort auf der Ausstellung zu arbeiten. Tatsächlich angekommen sind nur die Männer, die Frauen sind unterwegs umgekehrt. Was ist geschehen? Was lässt sich in dieser Lücke finden? Joel und Vincent haben recherchiert: Offenbar wurden Besitz und Erbe traditionell über die mütterliche Seite der Familie weitergegeben. Allerdings kam es wohl zu Deals zwischen Männern vom Schiff und Kolonialist*innen über diesen Landbesitz. An dieser Stelle beginnen Joel und Vincent mit der kritischen Fabulation: Was wäre also, wenn es zu einem kollektiven Aufbegehren der Frauen an Bord gekommen ist? Gut möglich, dass es auf dem Schiff zu einem Protest, einem feministischen Akt des Widerstands kam.

Erinnerungsarbeit zwischen Kunst, Wissenschaft und Politik

„Wir haben nicht so viel Angst vor Fantasie”, sagt Joel im Gespräch. Indem zurückERZÄHLT neben belegten Fakten auch fiktive Momente erzählerisch aufbereitet, werden die Zuhörenden nicht nur informiert, sondern auch involviert. In dieser künstlerischen Auseinandersetzung mit kolonialer Erinnerung sehen Joel und Vincent einen klaren Vorteil: „Was wir eine Milliarde Mal besser können als jede Wissenschaft, ist Vermittlung.” Über das Hören werde die augenscheinlich unsichtbare Geschichte des Treptower Parks in der Vorstellungskraft der Zuhörenden sichtbar gemacht.

Schau mal: Das Wasser, es ist immer da […]. Es verbindet hier und drüben, das Jetzt und die Geschichte, um die es hier geht.” – zurückERZÄHLT

Zurück zur FU, in die Ihnestraße, in Dannas Büro. Danna macht deutlich, dass wissenschaftliche und menschenfeindliche Praxis in der Vergangenheit oft zusammenhingen. Daher sei es besonders wichtig, ethische Aspekte in der Wissensproduktion mitzudenken. Man müsse wachsam sein und die Objektivität von Forschung auch rückwirkend immer wieder aufs Neue hinterfragen. Gerade das KWI-A sei „ein gutes Beispiel für die ambivalenten Beziehungen zwischen Wissenschaft und Politik, aber auch die Verflechtungen zwischen Rassismus, Antisemitismus sowie Ableismus”. Besonders weil die FU und das Otto-Suhr-Institut noch immer Orte der Forschung seien, gebe es hier viel Potential für kritische Reflexion.

Nicht nur die Ihnestraße 22 ist Schauplatz erinnerungspolitischer Kämpfe an der FU. Die Namensgebung des Henry-Ford-Baus wird schon lange diskutiert und für die Iltis-, Taku- und Lansstraße fordern Initiativen ebenfalls Umbenennungen. Im Hörspaziergang heißt es: „Jeder Ort hat eine Geschichte zu erzählen. Nein, nicht eine, sondern viele.” Was wäre, wenn in Zukunft die Vergangenheit des heutigen Otto-Suhr-Instituts und anderer Gebäude in Dahlem sichtbarer wäre? Würden wir unser wissenschaftliches und politisches Handeln anders betrachten?

Für Joel und Vincent ist der Blick zurück in die Geschichte „auch ein Blick nach vorne”. Denn die Kämpfe von gestern seien nicht abgeschlossen, sondern würden marginalisierte Gruppen auch heute noch dazu ermutigen, für gleiche Rechte und mehr Sichtbarkeit in der Gesellschaft von Morgen einzustehen.

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