Chatgespenster

Alle finden Ghosting blöd, machen’s aber selber. Egal ob auf Tinder oder in der Referatsgruppe – Ghosts verflüchtigen sich inzwischen überall. Ein Plädoyer für das Ende der Doppelmoral von Julia Schmit.

Illustration: Malin Krahn

Es ist das Jahr eins Prä-Corona, ich bin auf Bumble unterwegs und stoße auf das Profil von einem süßen Dude, nennen wir ihn Bob. Wir matchen, wir treffen uns, wir knutschen ein bisschen rum. Nach ein paar Treffen antwortet er jedoch nicht mehr auf meine Nachrichten. Kein Anruf, keine Erklärung, keine Aussprache. Die blauen Häkchen auf WhatsApp starren mich an und flüstern: »Er mag dich nicht mehr.« Bob hat mich geghostet. 

Ghosting ist der plötzliche und unangekündigte Kontaktabbruch einer Person. Wie ein Geist, der abrupt unsichtbar wird, verschwindet jemand aus deinem Leben. Seinen Ursprung hat der Begriff im Online-Dating, inzwischen kann dich jede*r ghosten: dein Dealer, deine Professorin, das BAföG-Amt. Ghosting ist in aller Munde: Zahllose Artikel, Podcasts und Videos widmen sich der Thematik. Sogar Krankenkassen wie die AOK veröffentlichen auf ihren Webseiten Tipps für Ghosting-Opfer und machen auf negative Folgen für die psychische Gesundheit aufmerksam.

Dating-Apps und soziale Netzwerke haben unsere Kommunikation im letzten Jahrzehnt grundlegend verändert. Man kann mit hunderten Menschen gleichzeitig in Kontakt stehen. Mit genauso vielen kann man den Kontakt aber auch abbrechen – und das kann wehtun. Sind Tinder, Hinge und Co. Schuld an diesem Phänomen? Oder ist Ghosting nur ein neuer Name für ein altes Muster? Wenn Elif aus der Parallelklasse mich auf dem Pausenhof nicht mehr grüßte oder mein Opa meine Oma nicht zum Tanztee abholte, wurden wir dann geghostet? 

Laut einer nicht-repräsentativen Umfrage in meinem Freund*innenkreis wurden 80 Prozent der Berliner Studierenden schon einmal geghostet; die meisten von flüchtigen Bekanntschaften oder verflossenen Lovern. Es gibt auch noch schlimmere Fälle, zum Beispiel enge Freund*innen, die sich nach jahrelanger Beziehung plötzlich nicht mehr melden. Jedes Ghosting hinterlässt ein ungutes Gefühl. Man fühlt sich austauschbar und hintergangen. Danach kommen die quälenden Fragen: Habe ich etwas falsch gemacht? Das Selbstwertgefühl rutscht in den Keller. 

So weit, so unschön. Aber ich muss beichten: Auch ich bin ein Ghost. Auch ich gehe unangenehmen Gesprächen lieber aus dem Weg und ziehe mich ghostend aus der Affäre. Anstatt der penetranten Kollegin zu sagen, dass ich an privatem Kontakt kein Interesse habe, ignoriere ich ihre Nachrichten und hoffe, dass sie es von alleine kapiert. Gute und ehrliche Kommunikation ist nun mal schwer und anstrengend – meine Konfliktscheue tut ihr Übriges. Obwohl ich weiß, wie schlecht es sich anfühlt, geghostet zu werden, mache ich es selbst nicht besser. Damit bin ich nicht alleine, denn meine Umfrage bestätigt eine Vermutung: Fast alle, die schon mal geghostet wurden, fanden es unfair oder verletzend, aber ghosten selbst fleißig weiter. 

Ghosting wird oft als Symptom von emotionaler Unreife gesehen. Ghosts wissen nicht, wie sie ihre Bedürfnisse und Gefühle adäquat mitteilen können. Stattdessen verschwinden sie aus dem Leben ihrer Opfer und spuken nur noch in deren Erinnerungen herum. Sind Ghosts also feige und fies? Ganz so eindeutig ist es nicht, denn auch sie haben ambivalente Gefühle. Psycholog*innen am St. Mary’s College in Maryland haben unlängst herausgefunden, dass viele Ghosts nach dem Kontaktabbruch zwar Erleichterung, allerdings auch quälende Schuldgefühle empfinden. 

Lange dachte ich, es sei netter, jemandem einfach nicht mehr zu schreiben, als zu erklären, warum ich mich distanziere. Heute sehe ich das anders. Es ist Zeit, den toxischen Ghosting-Teufelskreis zu durchbrechen! Unsichtbar-Werden kann auch respektvoll angekündigt werden – im Sinne empowernden Datings und gegenseitiger Wertschätzung. Diese eine Nachricht zu schreiben, dauert nur einen Augenblick und führt zu einer faireren und verantwortungsvolleren Kommunikation. Wenn Bob bei Sonnenaufgang nicht neben mir liegt, ist das okay. Aber ich sollte wissen, wieso. 

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