Vom falschen Versprechen der Freiheit

Der liberale Geist: Viele denken an Crémant-urinierende und Lacoste-transpirierende Jungunternehmer*innen. Doch das liberalistische Grundrauschen durchzieht alle Bereiche unserer Gesellschaft, auch die Hochschulen. So geraten systematische Chancenungleichheiten aus dem Blick und gesellschaftliches Verantwortungsbewusstsein unter die Räder. Ein Essay von Leonard Wunderlich.

Das Bildungssystem verliert die unterschiedlichen Voraussetzungen seiner Individuen aus den Augen. Illustration: Ric Sander Bohmann

Das Postulat der Freiheit ist nicht nur Gründungsethos der Freien Universität Berlin, sondern verleiht ihr auch den Namen. Im Berlin der Nachkriegsjahre standen sich die Alliierten im ideologischen Konflikt gegenüber – der liberale Westen dem kommunistischen Ostblock. Letzterer nahm zunehmend stärkeren Einfluss auf das Bildungswesen, verurteilte unbequeme Studierende und Dozierende zu Zwangsarbeit. Die Forderung nach einer freien Universität wurde laut und schließlich unter amerikanischer Schirmherrschaft in West-Berlin verwirklicht. Seitdem hat die FU eine Maxime: die Freiheit. Dieser liberale Geist prägt – wenn auch nur selten deutlich sichtbar – bis heute nicht nur die FU, sondern das gesamte Bildungssystem. Doch stehen Liberalismus und individuelle Freiheit an so mancher Stelle in Spannung.

In langer Tradition

Das ideengeschichtliche Erbe jenes liberalen Selbstverständnisses reicht weit in die europäische Aufklärung zurück. Die Philosophie der Moderne setzt den Menschen frei und das Individuum in den Mittelpunkt, erklärt es zum autonomen, das Selbst und die Welt gestaltenden Wesen. Seine Handlungs- und Entscheidungsfreiheit ist demnach weder durch einen teleologischen, also zielgerichteten Gang der Geschichte, noch durch eine natur- oder gottgegebene Herrschaft mancher über andere oder durch eine metaphysische Determination seines Wesens beschränkt. Der Liberalismus erhebt die absolute Freiheit des Individuums zur Grundnorm jeder menschlichen Gesellschaft – und droht gerade dabei, die Sehkraft für so manche gesellschaftlichen Zwänge und Machtgefüge einzubüßen.

Im Bildungswesen weist fundamental-liberales Denken dem Individuum somit uneingeschränkte Eigenverantwortung für den Verlauf und Erfolg des eigenen Bildungsweges zu. Mehr noch: Zur erfolgreichen Umsetzung der persönlichen Entscheidungen seien allein Fleiß, Biss, Disziplin und Durchhaltevermögen nötig. Jeder Misserfolg fällt so unweigerlich auf den*die ureigenverantwortliche*n Einzelne*n zurück. Doch diese Sicht verzerrt reale Verhältnisse und fußt auf falschen Prämissen. In ihrer Konsequenz nimmt sich die Gesellschaft vollständig aus der Verantwortung, Chancengerechtigkeit sicherzustellen.

Chancenungleichheit gegen Eigenverantwortlichkeit

Der Hochschulbildungsreport 2020 zeigt jedoch: Individuelle Bildungschancen hängen wesentlich von sozio-ökonomischer und familiärer Herkunft ab. Der liberale Eigenverantwortungsimperativ ist hingegen blind für solche ungleichen Startbedingungen und die wesentliche Prädetermination von Bildungserfolg und -misserfolg. Stattdessen werden mögliche Folgen dieser strukturellen Ungleichheit in die Sphäre individueller Verantwortung verschoben. 

Die Bologna-Reform für eine internationale Vergleichbarkeit von Studienabschlüssen, die Ausrichtung der Universität auf die Nöte des Arbeitsmarktes und der Abbau studentischer Tutorien und Mentor*innenprogramme erhöhen sowohl den Druck im Studium als auch die Eintrittsschwelle. Wurden Menschen mit nicht-akademischem Hintergrund durch studentische Tutorien und Mentor*innen in die universitäre Welt, ihre Lehren und Gebärden eingeführt, sehen sie sich heute vielmehr mit einem System konfrontiert, das an die Stelle der Akklimatisation weitgehend die Karriereplanung und -beschleunigung stellt. Sind Tutorien noch vorhanden, zielen sie vor allem darauf, möglichst zeiteffizient die Prüfungsordnung zu absolvieren und den eigenen Lebenslauf voranzutreiben.

Diese Tendenzen sind Resultat jenes unsichtbaren liberalen Geistes, der nach Individuation, Selbstverwirklichung und persönlicher Befreiung strebt, nicht selten jedoch dort Hürden und Mauern errichtet, wo der*die Einzelne stattdessen eine Hand zu greifen sucht. Ein Bildungswesen, ebenso eine Universität, haben nur verdient frei genannt zu werden, wenn sie nicht die Augen vor klassenspezifischer Chancenungleichheit verschließen. Stattdessen bedarf es eines Bewusstseins für die sozialen Schranken der persönlichen Entscheidungsfindung sowie für Wege ihrer Überwindung, um das Individuum wirklich zu befreien.

Autor*in

Leonard Wunderlich

Hat den leisen Verdacht, dass Hochschulpolitik doch irgendwo nicht völlig unwichtig ist.

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