Der Zauber des Verborgenen

Der Blick in die ungewisse Zukunft durch Weissagungen, das Auspendeln wichtiger Entscheidungen oder Gespräche mit Geistern durch Gläserrücken – Esoterik ist für viele nicht nur Spielerei, sondern Kommunikation mit verborgenen Mächten. Wie lässt sich der Zauber dieses Trends entschlüsseln?

Esoterische Symbole als Blick in die ungewisse Zukunft? Illustration: Ric Bohmann

Allen Waagen raten die Sterne für 2023 zu mehr Mut und Selbstvertrauen, für Skorpione kommt der Erfolg nicht immer plötzlich und auf Löwen wartet im Mai eine schicksalhafte Begegnung. Doch deine kurvenreiche Herzlinie verspricht für die Liebe sowieso keine rosigen Aussichten, auch deine Schicksalslinie zeigt zu viele Unterbrechungen.

Horoskope sind längst nicht mehr nur auf der vorletzten Seite in Zeitschriften versteckt. Inzwischen kann man sich seine Karten auch über TikTok legen lassen oder ein eigenes Set  neben Klamotten im Sale bei Urban Outfitters abstauben.    

Esoterische Praktiken sind so vielfältig wie die Personen, die sie anbieten und die Preise, die man für ›professionelle‹ Durchführungen ausgeben kann. 

All das scheint wie ein großer, geheimnisvoller Hokuspokus. Aber was hat es mit den unsichtbaren Kräften eigentlich auf sich? Esoterik und Okkultismus haben dieselbe Bedeutung, erklärt Hartmut Zinser, Religionswissenschaftler an der FU. »Beide beschreiben die Beschäftigung mit den verborgenen, noch geheimen Dingen in der Welt.« Neben den großen Weltreligionen beschäftigt Zinser sich auch mit der Esoterik und ihrer Verbreitung. Kaum jemand bestreite die Existenz von verborgenen Dingen, diese würden jedoch erst durch okkulte Interpretationen in ein bestimmtes Weltbild gerückt.

Interpretation ist hier das Zauberwort, denn im Gegensatz zur Wissenschaft unterscheidet der Okkultismus nicht zwischen Wahrnehmung und Deutung. Die empirischen Wissenschaften benutzen verschiedene Methoden wie beispielsweise Experimente mit Kontrollgruppen, um Erkenntnisse abzuleiten und Verzerrungen, die durch subjektive Wahrnehmung entstehen können, zu vermeiden. Der große Unterschied von Esoterik zur Wissenschaft: Magische Praktiken wie Weissagungen können nicht wiederholt werden. Das würde ja den Zauber nehmen. Esoterische Praktiken können als Phänomen erforscht und widerlegt werden, erklärt Zinser. Beim Pendeln könne eine unbewusste Steuerung beobachtet werden, der sogenannte Carpenter-Effekt. Die ausgeführten Bewegungen würden automatisch, wenn auch unbewusst, durch die Wörter, an die wir denken, gesteuert. Dies gelte auch für das Gläserrücken: »Die entstandenen Wörter werden durch eine unterbewusste Handbewegung der Menschen gebildet. Sie wissen es nur nicht.« So faszinierend Geschichten und Filme über esoterische Praktiken auch sein mögen, bislang gibt es keinen einzigen naturwissenschaftlichen Beweis von übernatürlichen Vorkommnissen, auch wenn Serien wie X-Factor es so darstellen. Es sind und bleiben Zufälle, Sinnestäuschungen und bereits voreingenommene Interpretationen, wie die Esoterikforschung belegt.

Dennoch liegt in der Esoterik eine Wirkungsmacht, da sie als Verborgenes stilisiert wird. Als etwas, das die Auseinandersetzung mit unsichtbaren Dingen möglich macht. »Um etwas Verborgenes begreifbar zu machen, müssen Esoteriker*innen Macht haben«, erläutert Zinser die Anziehungskraft dieser Praktiken. Die Vorstellung, dass es hinter der sichtbaren Welt noch eine unsichtbare gibt, wecke Neugier und die Aussicht, Antworten auf dringende Fragen zu erhalten. Beispielsweise Antworten auf die Frage nach der großen Liebe oder die Wahl von Ausbildungs- und Lehrstellen. Magier*innen und mit der Geisterwelt kommunizierende Medien versprechen dabei zu helfen. So erscheinen sie mächtig, denn »die Macht färbt auf diejenigen ab, die vorgeben, Zugang zum Verborgenen zu haben.«

Zinser erklärt, dass nicht allein die Suche nach Antworten Menschen zu Hellseher*innen gehen lasse. Vielmehr gebe es Situationen, in denen weder der eigenen Vernunft noch den Emotionen geglaubt werde. Der Zwang, unter einer Unmenge an immer komplexer werdenden Informationen eine Entscheidung zu treffen, vergrößere den Willen, diese von sich zu schieben, erläutert Zinser. Auch die entsprechende Verantwortung werde an ein Orakel abgegeben: »Dann ist das Pendel verantwortlich und nicht jede*r selbst.«

Schon in der Antike wurden Entscheidungen ausgependelt. Nach einer Verschwörung gegen den römischen Kaiser Valens (364 bis 379) sollte sein Nachfolger auf magische Weise ermittelt werden. Esoterik ist also keine Erfindung der Moderne. Die Verbreitung und die Zugänge der Esoterik haben sich allerdings verändert. Heute wird Okkultes nicht mehr nur durch Schriften oder persönliche Gespräche vermittelt, sondern durch Esoterikportale, Podcasts, Videos oder Apps. Überall und zu jeder Zeit ist es möglich, anhand von esoterischen Praktiken einen Blick in die Zukunft zu werfen. Dass die Beschäftigung mit Esoterik auch belustigend sein kann, erläutert Zinser abschließend mit einer Anekdote: Aus einer Zeitschrift schnitt er ein Horoskop aus, kopierte den Text und verteilte ihn in einem geschlossenen Umschlag an alle Studierenden in seinem Seminar. Der Großteil im Kurs stimmte mit dem Geschriebenen überein und als jemand den Text vorlas, fingen alle an zu lachen. Denn alle hatten denselben Text bekommen und sich darin wiedergefunden. Alles mithilfe des ›Zaubers‹ ihrer Interpretationen.

Autor*in

Ähnliche Artikel

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.