Die Freunde, mit denen du deine Wochenenden verbringst, das Studium, das du dir ausgesucht hast, die Stadt, in der du lebst. Was, wenn du all das gar nicht frei entschieden hast? Neurobiologe Robin Hiesinger schaut im Gespräch mit Anja Keinath in philosophische Abgründe.
Herr Hiesinger, ist die Frage nach einem freien Willen eine philosophische oder eine naturwissenschaftliche?
Hiesinger: Beides. Neurowissenschaftler*innen beschäftigen sich damit, weil sie davon ausgehen, dass sowohl Bewusstsein als auch freier Wille ein Produkt der Gehirnfunktion sind. Nach der Sichtweise der Connectionists entstehen höhere kognitive Leistungen aus den Verbindungen der Nervenzellen. Es ist aber auch eine philosophische Frage. Denn es gibt Fragen, die die Neurowissenschaften nicht beantworten können, wie die Frage nach der Realität des Wahrgenommenen und die Frage, wie es sich anfühlt, ein Mensch, eine Fledermaus oder ein Oktopus zu sein. Die letzteren beiden kann sich das menschliche Gehirn einfach nicht vorstellen.
Seit wann gibt es das Konzept eines freien Willens?
Der antike Philosoph Demokrit vertrat die Idee, dass das gesamte Universum aus Atomen besteht, die sich wie vorprogrammiert verhalten. Damit wären alle Ereignisse vorherbestimmt. Das widerspricht jedoch dem Konzept eines freien Willens. Der Philosoph Epikur entwickelte daraufhin den Epicurean Swerve: die Idee, dass Atome trotz Determinismus gelegentlich zufällig abweichen und so einen freien Willen ermöglichen. Die Suche nach so einem Indeterminismus ist bis heute im Gange. Ob ein Indeterminismus allerdings einen freien Willen erlaubt, ist gar nicht so einfach zu beantworten.
Denn das hieße ja, dass wir dann zwar nicht dem Determinismus, sondern dem Zufall unterworfen sind, korrekt?
Absolut. Zufall ist, philosophisch argumentiert, genauso inkompatibel mit freiem Willen wie Determinismus. Philosoph*innen wie Daniel Dennett versuchen, den freien Willen trotzdem mit Zufall zu retten. Die Idee ist, dass Indeterminismus über emergente Phänomene zu freiem Willen führen kann. Einige Neurobiolog*innen stimmen dem zu und halten so einen freien Willen für möglich, der in der Nervennetzfunktion entsteht. Da spielt allerdings viel Hoffnung eine Rolle, denn wie genau das funktionieren soll, ist aus meiner Sicht nicht klar. Das bedeutet aber nicht, dass es nicht sein kann. Ich habe die Hoffnung auf einen solchen Mechanismus auch noch nicht aufgegeben.
Als ich mich das erste Mal damit auseinandergesetzt habe, dass der Mensch vielleicht gar keinen freien Willen hat, hat mich das in eine kleine existenzielle Krise gestürzt. Ging es Ihnen auch so?
Ich verstehe Ihre Existenzkrise. Die Vorstellung, dass das gesamte Universum vielleicht einfach nur eine deterministische Maschine ist, ist erst einmal ein komischer Gedanke. Aber da gibt es auch eine pragmatische Sichtweise. Jean-Paul Sartre hat gesagt, der Mensch ist zur Freiheit verdammt. Ob diese Freiheit letztendlich real oder eine Illusion ist, ist eigentlich egal, denn Entscheidungen treffen müssen Sie ja trotzdem.
Was bedeutet das für unsere Gesellschaft, wenn wir keinen freien Willen haben?
Vor nicht allzu langer Zeit haben wir Menschen mit Epilepsie als vom Teufel Besessene verbrannt – ohne die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass neurologische Beeinträchtigungen eine Rolle spielen könnten. Damals kannte die Gesellschaft keine Gehirnläsionen, die eine Verhaltensänderung hervorrufen können. Ulrike Meinhof wurde vor ihrer Zeit bei der RAF ein Gehirntumor entfernt, als sie noch Journalistin war. Bei der Operation wurde ein Teil der Amygdala beschädigt. Die Amygdala ist eine Gehirnregion, die verantwortlich ist für die Emotionen Angst und Aggression. Und vielleicht noch schockierender: Eine Studie in den USA hat gezeigt, dass Richter*innen nach dem Mittagessen mildere Urteile fällen. Die Wahrscheinlichkeit, auf Bewährung freigelassen zu werden, ist vor dem Mittagessen praktisch null. Unser Metabolismus hat also einen Einfluss darauf, wie unser Gehirn funktioniert und welche freien Entscheidungen wir treffen.
Diese Beispiele zeigen: Viele Faktoren beeinflussen, welche Entscheidungen wir treffen: Genetik, Hormone, der metabolische Zustand, Sozialisierung oder eben Gehirnläsionen. Über all diese Dinge haben wir keine Macht. Wir wissen also, dass der freie Wille sehr, sehr eingeschränkt sein kann durch die Biologie, und bei jedem von uns zumindest zum Teil eingeschränkt ist. Die Frage, wie wir mit moralischen Urteilen und Strafen angesichts quantitativ unbekannter Einschränkungen des individuellen freien Willens umgehen, ist schwierig und auch keine Frage der Neurobiologie. Aber neurobiologisches Wissen kann helfen. Heute behandeln wir Epilepsie, anstatt Menschen dafür zu bestrafen. Die Frage ist also: Welche Handlungen und Verhalten bestrafen wir heute als freie Entscheidungen, obwohl wir bereits Hinweise auf biologische Ursachen haben?
Zum Abschluss noch eine philosophische Frage. Sie haben einmal geschrieben: »I first wondered about the natural world and decided to study biology in the early 1990s. Soon, I wondered whether I was really using my brain to study the world, or whether I was just studying the world in my brain.« Sind Sie da schon weiter gekommen?
[Lacht] Das ist eine philosophische Frage nach der Realität. Aber ja, ich glaube, ich bin weitergekommen. Unser Gehirn erfindet die Realität, die wir wahrnehmen, und aus der Nummer kommen wir nicht raus.