Annika Böttcher liest quasi immer, zu jeder Tages- und Nachtzeit, und überall, in der Bahn, im Sessel, im Zug, im Bett, zuhause, unterwegs. Wenn sie nicht liest, schreibt sie gern, zum Beispiel über Bücher. Drei von ihnen, die sie diesen Winter länger beschäftigt haben, stellt sie hier vor.

Yeni Yeşerenler von Duygu Ağal
Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal beim Lesen geweint habe, so selten passiert mir das. Aber Ağals ungewöhnliches und extrem cooles Debüt, 2022 im Korbinian Verlag erschienen und in der queeren Literaturszene völlig zurecht innerhalb kürzester Zeit zum Publikumsliebling avanciert, hat mich mit seiner präzisen und oft subtilen Sprache für gesellschaftliche Missstände, familiäre Grenzen und Missgunst in Freund*innenschaften enorm berührt.
Hauptfigur dieses deutsch-türkischen, autofiktionalen Sammelbandes ist Derin, die ihren Weg von Hamburg nach Berlin nacherzählt: die schmerzhafte Loslösung von und Sehnsucht nach der Blutsfamilie, gewaltvolle Beziehungserfahrungen, Rassismus und Klassismus im solidarisch geglaubten Fußballverein. Dieses Buch, das sich trotz vieler stilistischer Brüche romanhaft liest, ist sicherlich eines über Verlust und queere Einsamkeit, vor allem aber eine große, wunderschöne, zärtliche Liebesgeschichte.
Nacht in Caracas von Karina Sainz Borgo (La hija de la española)
Tags verstirbt die Mutter der Protagonistin Adelaida, ein intimer, zurückgezogener Moment; nachts überschlagen sich wie sonst auch die Ereignisse auf den Straßen: Schießereien, Plünderungen, Misshandlungen.
Nacht in Caracas ist 2023 im S.-Fischer Verlag erschienen und erzählt in sprödem Ton von den gewaltvollen Konflikten im diktatorischen Venezuela, ohne die Hintergründe ausführlicher zu erklären. So fehlt zwar hin und wieder Kontextwissen, Lesende fühlen sich dadurch aber nicht belehrt, sondern beobachten dank der pragmatischen Sicht der Protagonistin die Geschehnisse und erleben, wie sich die Situation in Caracas, vor allem aber die der Erzählerin, immer weiter verschärft. Die Besetzung ihrer eigenen Wohnung durch eine Frauenpatrouille und der Tod ihrer Nachbarin fügen sich daher wie glückliche Gegebenheiten in unglücklichen Zeiten, denn Adelaida findet hier einen zeitweisen Unterschlupf und eine neue Identität, und ihre Fluchtplanung, einzig möglicher Ausweg, um zu überleben, nimmt ihren Anfang.
Der Debütroman überzeugt durch genaue Beobachtungen und scheinbar distanzierte Einordnungen der Geschehnisse in der Stadt und dem eigenen Zuhause. Wer einen emotionalen Zugang zum Thema sucht, wird hier eher nicht fündig; trotzdem hallt die Erzählung nach, vor allem, weil deutlich wird, welche vielleicht auch unerwarteten Verluste mit einer Flucht einhergehen.
Die Lüge von Mikita Franko
Die Lüge von Mikita Franko, 2022 erschienen bei Hoffmann und Campe ist eine einfühlsame und wichtige Geschichte über queeres Leben in Russland. Der kleine Miki wächst nach dem Tod seiner Mutter bei seinem Onkel und dessen Partner auf. In der Schule muss der schüchterne Junge die Wahrheit über seine Familie verschweigen. Das klappt nicht immer, aber allen äußeren Widrigkeiten der homofeindlichen Gesellschaft zum Trotz erfährt Miki von seinen Vätern Geborgenheit und welche Werte wirklich hinter dem Wort Menschlichkeit stehen. Knapp 400 Seiten lang folgt man Miki auf seinem Weg durch Kindheit und Jugend, ohne sich zu langweilen und lässt sich von der Wärme der Geschichte einnehmen. Frankos Buch beweist mit seiner zugewandten Art des Erzählens, dass von Homosexualität in Russland erzählt werden kann, ohne zu beschönigen, aber auch, ohne extreme Gewalterfahrungen zu schildern.