Heutige Freiheitsvorstellungen könnten kaum unterschiedlicher sein: Während die einen augenblicklicher Triebbefriedigung und Genuss hinterherjagen, geißeln sich die anderen mit Meditation und Verzicht. Lisa Damm hat die gegensätzlichen Pole hedonistischer und asketischer Auslebung erkundet.
An der gut gefüllten Bar im Außenbereich des bunten Techno-Clubs Sisyphos kann neben vielen anderen dekadenten Drinks für zwölf Euro auch der berühmt-berüchtigte, hochprozentige ‘Porsche’ nach hauseigenem Rezept erstanden werden. Überkommt einen beim Feiern der Appetit, verspricht außerdem eine sehenswerte Auswahl an Essensständen Abhilfe. Und für die Sisyphos-Insider gibt es auf Nachfrage zusätzliche Pizza-Toppings wie frischen Rucola und selbstgemachtes Pesto. Nachdem Hunger und Durst gestillt sind, können ein bisschen versteckt auch andere berauschende Substanzen in dafür vorgesehenen Kabinen konsumiert werden. Sobald Tanzstimmung aufkommt, geht’s ein paar Schritte von der Bar entfernt zu einer reichlich und farbenfroh dekorierten Tanzfläche. Das reinste Paradies für leidenschaftliche Hedonist*innen. Ist das die Freiheit, nach der alle Welt strebt?
Oder ist Freiheit das Gefühl, an einem Sonntag pünktlich zu den ersten Sonnenstrahlen im selbstgebauten Tiny House aufzustehen, meditierend in den Tag zu starten und sich danach den regionalen Obstsalat schmecken zu lassen? So ganz im Sinne der asketischen Vernunfts- und Verzichtskultur, die zu exzessiver Beherrschung der intuitiven Bedürfnisse aufruft.
In den beiden sehr unterschiedlichen Freiheitsmodellen, die ursprünglich der antiken griechischen Philosophie entstammen, ist die Kontrolle ein wichtiger Aspekt. Es bleibt fraglich, ob nicht eine gewisse Kontrollabgabe an sinnliche und materielle Bedürfnisse und die gegenteilige Anpassung des Lebensrhythmus und der freien Entscheidungsgewalt an streng auferlegte Regeln auf ein Nullsummenspiel hinauslaufen.
„Do what you want“
Es zeigt sich, dass dem Freiheitsbegriff keine klare Definition zugeordnet werden kann, sondern dieser vielmehr individuell interpretiert und umgesetzt wird. So gilt es etwa in modernen hedonistischen Lebenskonzepten, Freiheit durch die unbeschwerte und spontane Befriedigung von Bedürfnissen wie Lust, Freude und anderen sinnlichen Genüssen zu erlangen und unangenehme Gefühle zu vermeiden. Exzessives Leben wird gesamtgesellschaftlich zwar aufgrund der Assoziation mit übermäßigem und gesundheitsschädigendem Konsum von vielen verpönt. Doch gerade in Deutschland ist ein verschwenderischer Lebensstil und ein regelmäßiger oder ausufernder Alkohol- und Drogenkonsum, wie er beispielsweise in München auf d’Wiesn oder beim Berliner Karneval der Kulturen stattfindet, fest im Lebensalltag verankert. Der Zeitgeist einiger Gesellschaftsgruppen beinhaltet eine fast schon ironische Verherrlichung der hedonistischen Lebenseinstellung, mit der eine Legitimation der kollektiv zelebrierten Konsumkultur einhergeht.
Eine Figur des modernen Hedonismus ist der sogenannte Neo-Hippie. Neo-Hippies zeichnen sich durch ein Leben voller ausschweifender Partys, ausgiebigen Mahlzeiten und gemeinschaftlicher Unterhaltung aus. Wie ein Artikel des zukunftsInstituts erklärt, geht es dabei weniger um die für den Hedonismus typische individuelle Abgrenzung als um eine Kultur des ‘Wir’. Mit ungewöhnlichen Demonstrationen bietet auch die Hedonistische Internationale einen interessanten Blick auf die Auslegung hedonistischer Freiheit. In all den politischen Dilemmata unserer Zeit erscheint sie als ironische Gruppierung fast schon als Parodie der desorientierten Politik, die sehenden Auges weder die nötigen Maßnahmen für den Klimaschutz ergreift noch eine gesellschaftliche Spaltung aufzuhalten vermag. Während ihrer Unterhaltungs-Demos skandiert die Hedonistische Internationale das Motto ‘Do what you want’. Ein Motto, das alle modernen Hedonismus-Ausrichtungen vereint.
Im Genuss der Brennessel-Heilkräfte
Dagegen begründen sich aktuelle Trends des Verzichtens und Widerstehens gegenüber materiellen und sinnlichen Bedürfnissen, wie der Minimalismus, Frugalismus oder das Heilfasten, historisch in der Philosophie der Askese. Wie der Religionsprofessor Antonio Lucci in dem theologischen Feuilleton feinschwarz ausführt, bezeichnete die Askese ursprünglich das Bestreben der Selbstoptimierung durch ein enthaltsames Leben, das sich ganz auf das innere Ich, frei von äußeren Einflüssen, konzentriert. In der Praxis weichen heutige Ausrichtungen zumindest in Teilen von den strengen Dogmen der antiken Askese ab. Der Grundgedanke allerdings bleibt – das Leben der Konsumgesellschaft hinter sich lassen und zurückfinden zu der ‘Natur des Menschen’. Nach dieser Verzichts-Ideologie leben auch Phillip und Karina, ein Pärchen, über deren Leben das ZDF in der Kurzdoku „Minimalismus als Befreiungsakt” berichtet. Sie lassen all ihr Hab und Gut zurück und schränken ihr Leben auf einen ausgebauten Kleintransporter, einen minimalen Besitz an Kleidung und den nötigsten Utensilien ein. Sie verstehen diese materiellen Einschränkungen vielmehr als Bereicherung für ihre Lebensqualität, die für sie in der nackten Natur ihrer selbst und der Umwelt liegt. Dazu gehört auch, die körpereigenen Abwehrkräfte durch ein reinigendes ‘Brennessel-Bad’ zu optimieren, das aus einem kleinen Spaziergang durch hochgewachsene Brennesseln besteht – gekleidet in nichts außer der Unterwäsche. Alltägliche Dinge wie ein Kühlschrank sind für die beiden unnötiger Überfluss, denn ihre Ernährung besteht ausschließlich aus Rohkost. Da gibt es zum Abendessen anstelle von Weizennudeln mit Bolognese eben Zucchini-Raspeln mit Mangosauce.
Wie der Hedonismus hat auch die Askese den Absprung in die Welt der sozialen Medien geschafft. Unter #Askese finden sich zahlreiche Memes, Sprüche und Tipps, wie wir unser Leben mit Verzicht bereichern können. Darunter fielen die positiven Auswirkungen des Fastens, wie etwa die „erhöhte geistliche Sensibilität” und „größere Freiheit von suchthaftem Umgang mit Essen” oder erhellende Lebensweisheiten wie „Minimalismus bedeutet nicht, weniger zu haben. Es geht darum, Platz zu machen für die wichtigen Dinge im Leben.” Einige der asketischen Lebenskonzepte, die im Netz umherschwirren, sind neben Minimalismus und Nachhaltigkeit religiös motiviert. Besonders präsent sind buddhistisch-spirituelle Ansätze, aber auch christliche Formen der Askese, die sich von einem enthaltsamen, reglementierten Leben eine tiefere Verbindung zu Gott erhoffen. So verschieden asketische Formen in ihrer Motivation auch sein mögen: Es bleibt die Frage, ob sich Freiheit tatsächlich in Enthaltsamkeit und Brennnessel-Bädern finden lässt.
Zwanghafte Freiheitssuche
Bei genauerer Betrachtung lassen sich in dem Vergleich hedonistischer und asketischer Lebensweisen und Freiheitsvorstellung neben Unterschieden auch Parallelen erkennen. In beiden Ausrichtungen spielen humanistische Werte wie Akzeptanz, ein harmonisches Miteinander und die Ablehnung von Gewalt eine zentrale Rolle. Eine weitere Gemeinsamkeit besteht in der Intensität beider Lebensweisen, die trotz der Gegensätzlichkeit in ihrem Streben nach Freiheit gleichermaßen etwas beinahe Zwanghaftes an sich hat. Während sich der Zwang in hedonistischen Lebensweisen intuitiv über die Abhängigkeit von sinnlichen und materiellen Bedürfnissen äußert, zeigt sich dieser in asketischen Idealen gerade in der angestrengten Bemühung, Unabhängigkeit von eigenen und äußeren Bedürfnissen zu erlangen. Denn auch hier werden Verhaltensweisen und Bewertungen durch Faktoren der Abhängigkeit bestimmt. Die asketische Lebensweise ist weniger intuitiv und tendenziell gesünder, schränkt aber dennoch den freien Willen und Handlungsrahmen durch vorgefertigte Richtlinien ein.
Die Gegenüberstellung moderner hedonistischer und asketischer Vorstellungen der Freiheit zeigt zwei Extremformen. Die meisten aber befinden sich irgendwo dazwischen: Verzicht auf neue Kleidung, dafür regelmäßig Second-Hand shoppen. Nicht jedes Wochenende feiern, sondern jedes zweite oder dritte. Vielleicht lassen wir uns alle hin und wieder von einem kleinen Hedonismus-Teufel auf unserer Schulter zu sinnlichen Bedürfnissen überreden – und vielleicht ist die bewusste Entscheidung, sich darauf einzulassen oder nicht, die individuelle Freiheit.