Die Berliner Politikwissenschaftlerin Julia Reuschenbach spricht auf der Leipziger Buchmesse über die schwierige Ausgangslage vor der Europawahl. Wie man mehr junge Menschen an die Wahlurne bringt, verrät sie Nadia Jusufbegović im Interview.

Die Europawahlen stehen vor der Tür und haben selten zuvor so viele Menschen bewegt. Die Stimmung ist unruhig – nicht nur in Deutschland, sondern in der ganzen Europäischen Union. Während die einen gegen den Rechtsruck auf die Straße gehen, fühlen sich die anderen von der Regierung übersehen und nicht repräsentiert. Über diese politische Stimmung haben Politikdozentin Julia Reuschenbach von der Freien Universität (FU) und Journalist Korbinian Frenzel auf der Leipziger Buchmesse 2024 unter dem Titel „Europa vor der Wahl” diskutiert.
Neben den Emotionen zum politischen Geschehen sehen sich die EU-Bürger*innen zusätzlich mit einer Flut an Informationen konfrontiert, die kaum zu bewältigen scheint. Zwischen Falschinformations-Kampagnen, verifizierten Quellen und Tiktok-Kanälen wie z.B. von der AFD verliert man schnell den Bezug zur Realität. Während grundsätzlich davon ausgegangen wird, dass ein höherer Konsum von Informationen zu einer höheren Wahlbeteiligung führt, bringt einen das bei der schieren Menge an Desinformation auf Social Media und Co. kaum weiter – oder? Reuschenbach mahnt in der Diskussion, dass alle unabhängig ihres Alters dringend mehr Kompetenz im Umgang mit Medien bräuchten. Doch ebenso warnt sie vor dem Trugschluss, eine besser informierte Bevölkerung wähle automatisch mehr (sozial-)demokratisch orientierte Parteien.
„Menschen [gehen] eben vor allem auch dann wählen, wenn sie das Gefühl haben, mit ihrer Stimme etwas ausrichten zu können.”
Nach wie vor stehen wir allerdings vor dem Problem, dass viele Menschen gar nicht erst wählen gehen, da sie ihrer Stimme kein Gewicht beimessen oder sich von den Politiker*innen des eigenen Landes nicht repräsentiert fühlen. Von der Idee einer länderübergreifenden Listenwahl (sprich auf dem Wahlzettel besteht die Option Politiker*innen anderer EU-Mitgliedstaaten zu wählen) versprachen sich viele mehr politisches Interesse und eine höhere Wahlbeteiligung der Bürger*innen. Die Idee setzte sich allerdings nicht durch.
Doch lohnt es sich, weiter über eine solche Listenwahl nachzudenken? Und was wird aus den Nichtwähler*innen, die sich nicht gesehen fühlen? Wenn so viele Falschinformationen kursieren, wie kann man sich trotzdem sicher durch das Internet bewegen, geschweige denn sich darüber informieren?
Auf ein paar Fragen zu den Europawahlen und dem politischen Klima in der EU scheint es momentan noch keine endgültigen Antworten zu geben. Julia Reuschenbach einige dieser Fragen zu stellen, bringt dennoch etwas Licht ins Dunkel:
FURIOS: Wir haben aus der Geschichte gelernt, dass der Einfluss der Massenmedien und deren Instrumentalisierung zur Propaganda nicht unterschätzt werden sollte. Sie haben eben darüber geredet, dass wir alle unabhängig vom Alter dringend mehr Kompetenz im Umgang mit Medien bräuchten: Haben Sie dabei konkrete Handlungsmaßnahmen im Kopf, welche von Seiten der Medien und Politik ergriffen werden sollten?
Reuschenbach: Medienkompetenz lässt sich bereits mit der frühkindlichen Bildung beginnend schulen. Wir bräuchten von der Grundschule an mehr und bessere Medienbildung. Das bedeutet vor allem mehr Zeit, aber auch geschultes Personal. Es braucht also auch Geld und Zeit für Fortbildungen für Lehrer*innen und mehr Möglichkeiten, um externe Fachkräfte in die Schulen einzuladen oder Exkursionen unternehmen zu können.
FURIOS: Was hätte die eben diskutierte länderübergreifende Listenwahl zur Folge? Eine noch geringere Wahlbeteiligung, da die Anforderung in der Informationsbeschaffung an Wähler*innen steigt, oder neues Potential für die Wähler*innen Anschluss in der Politik zu finden?
Reuschenbach: Die Listenwahl könnte eine Möglichkeit sein, um „Gesichter Europas” zu stärken und den Gedanken der europäischen Integration zu bestärken, dass Politiker*innen aller Länder die Bevölkerung Europas gemeinschaftlich vertreten und zusammenarbeiten. Zugleich ist klar, dass es nicht einfach wäre, genügend Bekanntheit für die Kandidierenden herzustellen. Das Prinzip einer länderübergreifenden Listenwahl wäre also nur dann interessant, wenn auch der Wahlkampf dann mehr finanzielle Möglichkeiten bekäme und stärker grenzüberschreitend angelegt werden würde.
FURIOS: Da Sie sich als Politikwissenschaftlerin wohl besser als die meisten mit Statistiken zu dem Thema auskennen: Können Sie aus der aktuellen Forschung ein Fazit ziehen, wie junge Menschen besser motiviert werden können, wählen zu gehen?
Reuschenbach: Die letzte Frage hat wenig mit Statistik zu tun, sondern vor allem mit der Frage, wann junge Menschen die Stimmabgabe als wichtig erachten. Das kann man als demokratische Verantwortung natürlich generell bejahen. Aber daneben gehen Menschen eben vor allem auch dann wählen, wenn sie das Gefühl haben, mit ihrer Stimme etwas ausrichten zu können. Insofern wäre ein Aspekt sicherlich, dass die Sichtbarkeit junger Menschen und der Themen, die ihnen besonders wichtig sind, in der Politik erhöht werden müssen – gerade in einer demographisch immer älter werdenden Gesellschaft, in der junge Menschen eben auch zahlenmäßig eine kleine Gruppe darstellen.