Wieso will sich keiner streiten? Keine Meinung zu haben ist nicht nur langweilig, sondern problematisch. Anja Keinath über People Pleaser, Neoliberalismus, Ignoranz und Privilegien.
In der eigenen linkspolitisierten Bubble ist Streit oftmals das einzige, worauf man sich einigen kann. Doch auf WG-Partys außerhalb davon bemerke ich immer wieder eines: Viele haben keine oder wollen keine Meinung haben. Menschen, die einfach nichts sagen, weder zum problematischen Dating-Verhalten des eigenen Mitbewohners, noch zu rassistischen Aussagen von Politiker*innen. Woher kommt das?
Eines vorweg: Es geht nicht darum, sich ab jetzt am Gossip über Influencer*innen zu beteiligen, sondern darum, Haltung zu zeigen, wenn es darauf ankommt. Gemeint sind Dinge wie toxisches Verhalten, Sexismus, Homophobie, Machtmissbrauch, Antisemitismus, Rassismus. Wie kann man dazu nichts sagen?
Angst vor Ablehnung und Pseudo-Diplomatie
Jede*r kennt sie, jede*r ist es vielleicht auch ein bisschen selbst: ein People Pleaser. Wir sehnen uns nach Anerkennung und haben Angst vor Ablehnung. Der pseudo-diplomatische Anspruch Hauptsache harmonisch, Hauptsache kein Streit, Hauptsache jede*r mag jede*n ist aber nicht nur naiv und unrealistisch, sondern genauso lame und bringt uns am Ende nicht weiter.
Ja, Streit ist anstrengend, aber Streit ist auch das, was eine freie Gesellschaft braucht. Dazu brauchen wir Meinungen, die wir nicht nur für uns behalten, sondern artikulieren – und zwar vor allem dann, wenn es darauf ankommt: wenn sich Politiker*innen antisemitisch äußern oder wenn wir toxisches Verhalten mitbekommen. So funktioniert Solidarität.
Freiheit bedeutet Verantwortung
Neben den People Pleasern gibt es auch diejenigen, die sich einfach einer Meinungsbildung entziehen – aus einer Mischung aus Ignoranz und Fatalismus oder aus der Überzeugung heraus, über den Dingen zu stehen, zu cool für eine Meinung zu sein. Als hätte man nichts mit der Gesellschaft zu tun, in der man lebt. Ich denke da beispielsweise an all die Typen, die in ihrem Hinge-Profil angeben, unpolitisch zu sein – was in den meisten Fällen einfach nur bedeutet, dass sie so privilegiert sind, dass sie mit den herrschenden Zuständen einverstanden sein können. Indem man sich nicht äußert, entzieht man sich seiner gesellschaftlichen Verantwortung. Aber jede Freiheit geht mit Verantwortung einher.
In neoliberalen Gesellschaften herrschen Individualismus und Selbstoptimierung, da gilt Konkurrenz statt Gemeinschaft. Wir kümmern uns nicht um andere, sondern konzentrieren uns auf uns selbst. Wir streiten nicht miteinander, sondern wollen beliebt sein, gemocht werden, anerkannt sein.
Selbstoptimierung statt Revolution
Der Philosoph Byung-Chul Han setzt sich in seinen Arbeiten mit der Destruktivität des Kapitalismus auseinander. In seinem Essay Warum heute keine Revolution mehr möglich ist beschreibt er die systemerhaltende Kraft des Neoliberalismus. Diese sei nicht repressiv, sondern seduktiv. Sie wirkt also nicht durch Verbot und Entzug, sondern durch eine Illusion von Freiheit, die uns zur Selbstausbeutung zwingt. »Die heutige Kultur der Selbstoptimierung lässt keine Arbeit am Konflikt zu«, schreibt Han. Durch die Beseitigung der Negativität reduziere sich die Kommunikation auf einen Austausch von Gefälligkeiten und Positivitäten. Kurz: Es geht nicht mehr darum, irgendetwas zu kritisieren, sondern ausschließlich darum, andere toll zu finden und selbst von anderen toll gefunden zu werden.
Vielleicht sind am Ende also gar nicht einzelne allein Schuld an dieser kollektiven Meinungsfreiheit – sondern dahinter verbirgt sich, wie so oft, ein viel größeres gesellschaftliches Problem. Daraus folgt: Auf der nächsten Party einfach mal wieder bisschen Streit anzetteln. Vielleicht funktioniert das mit der Revolution dann ja irgendwann doch.