Das Bild Berlins als Mekka der Freiheit hat Legendenstatus erreicht. Missverstandene Jugendliche, die ihr Glück jagen und Zugezogene auf Sinnsuche. Ist das nur ein Klischee? Katerina Nikolova hat bei Studis und Berliner*innen Anekdoten zu ihrer ›Berliner Freiheit‹ gesammelt.
Spandau
Wenn man an Berlin denkt, denken die meisten an eine Großstadt. Aber tatsächlich hat Berlin ja auch viel Landfläche. Und ich weiß, alle mobben Spandau, aber hier gibt es schöne kleine Hügel und Wälder, und wenn ich da Fahrrad fahre, dann fühle ich mich immer sehr frei.
Fashion-Engel
Ich entwerfe selber Kleidung und mache davon ab und zu Fotos für Instagram. Für meine neue kleine Kollektion machte ich mit zwei Freundinnen ein Shooting in einer U-Bahn-Station. Die Leute stiegen ein und aus und beäugten uns. Manche lächelten, aber niemanden scheint das besonders zu erstaunen. In einer Situation, in der man sich zur Schau stellt und sich oft beobachtet oder verurteilt fühlt, wurde mir klar, dass man nur ins kalte Wasser springen braucht, um zu merken, dass Berlins Wasser – ausschließlich metaphorisch gemeint! – eigentlich gar nicht so kalt ist.
Ich weiß noch, wie dann ein Typ in die Station gekommen ist, der von einer Ukraine-Demo kam, ganz in gelb-blau gekleidet und mit riesengroßen weißen Flügeln, und auf einmal waren wir nicht mehr die Auffälligsten dort. Sogar ein paar Fotos konnten wir mit dem Engel schießen – ein Zusammenschluss der Auffälligen! Und die Vision, die ich anfangs nur in meinem Kopf hatte, war auf einmal überall… Und alle haben es einfach so akzeptiert.
Safe Space Boxring
Ich komme gerade vom Frauenboxen, und das ist für mich eine dieser Herzenssachen. Ich finde es super geil, dass es viele Angebote ausschließlich für Frauen oder FLINTA* gibt, ob es jetzt Frauenfitnessstudios sind oder eben mein Frauen-Boxkurs. So kann jeder in seiner Freizeit ausleben und sich dabei sicher fühlen.
Man kennt sich
Ich bin West-Berliner, dort aufgewachsen und wohne jetzt zwar woanders, aber auch wieder im Westen. Dann bin ich mal an einem Sonntag in Friedrichshain unterwegs und treffe fünf unterschiedliche Leute aus fünf unterschiedlichen Bekanntenkreisen, die zufällig auch da sind. Letztens war ich mit einem Norweger unterwegs, der hier nur für eine Woche Touri war. Dann treffen wir in einer Schönenberger Bar ganz zufällig einen guten Freund seiner Familie aus Norwegen, und die wussten beide nicht, dass sie gleichzeitig in Berlin sind. Und das finde ich irgendwie wild: Man ist in Berlin so frei, überall hinzugehen und trifft trotzdem immer seine Leute.
Bullen im Kitty
Ich hab mal mitbekommen, wie ein älterer, wahrscheinlich konservativer Herr bei der Streifenpolizei sich über das unstandesgemäße Outfit des jungen Mannes neben ihm beschwert hat. »So läuft doch keiner rum!«, sagte er – Polizei solle ihn doch mal zum Umziehen nach Hause schicken. Der hatte ja auch so’n richtiges Kitty-Outfit an: Ledershorts und Netz-Tanktop, sah echt nice aus! Der Polizist guckt, geht zu dem Typen und sagt: »Entschuldigen Sie, ich hab mal ‘ne kurze Frage: Wo haben Sie denn das Outfit gekauft? Ich bin mit Freunden nächstes Wochenende auch im Kitty und das gefällt mir voll gut!«. Für mich steht das stellvertretend für Berlin, weil es einfach so unerwartet ist, aber auch irgendwie so absurd. Im positivsten Sinne kafkaesk.
Wir bitten um Verständnis
Besonders eingeschränkt fühle ich mich, wenn die BVG wieder random beschließt: Heute geht’s nicht zur Uni.
Fledermaus in der S-bahn
Zu meiner Schulzeit war es keine Seltenheit, dass einem Batman über den Weg gelaufen ist. Es gab einen Typen, der einfach in einem richtig Cosplay-würdigen, hochwertigen Batman-Kostüm seinem Alltag nachgegangen ist. Das war beim ersten Mal natürlich so »Wow… cool!«, aber dann hat man ihn öfter gesehen und sich daran gewöhnt. Man ist also morgens um halb acht von der S-Bahn in die U-Bahn umgestiegen und dann stand Batman mit in der Menschenmenge, und es war einfach normal: »Ach ja, Batman wieder hier.« Und ich glaube, das ist ein schönes Berlin in a nutshell. Leider habe ich den seit Corona gar nicht mehr gesehen…
Letzte Bahn?
Egal, was ist, du weißt, es gibt immer irgendeine vercrackte Bahn, Bus, Tram, die dich nach Hause bringt.
Nolli-Core
Am Abend meines ersten Christopher Street Days in Berlin, nach einem Tag voller Lachen und schick gekleideter Leute, sind wir mit meinen Eltern im Akazienkiez Abendessen gegangen. Wie wir da draußen saßen, lief ein sehr eleganter Herr vorbei: in Reiterhose, Fischnetz-Tanktop, mit Reitstiefeln, aus denen eine Art Reitpeitsche raus guckte, einem sehr schön gewachsenen Moustache und Sonnenbrille. Meine Eltern kicherten leicht, und dann meinte meine Mutter ganz trocken: »Joa, der sucht sich jetzt ‘nen Hengst.« Da mein ehemaliges Gymnasium auch dort in der Nähe ist, hatte ich genug Zeit, diesen Ort zu beobachten. Ob es nun Sex-Shops, ein 24/7 Edeka, Grundschulkinder, U-Bahn-Gewirr oder Leute mit ledernen Hundemasken an der Leine sind – am Nolli kriegt man so ziemlich alles zu sehen. Man verbringt einfach nie einen langweiligen Tag in dem Kiez, aber auch generell in Berlin nicht. Ich kenne keine andere Stadt, die es einem erlauben würde, so krass man selbst zu sein – und das ist doch irgendwie der Inbegriff von Freiheit, oder? Vielleicht romantisiere ich es auch nur ein bisschen.
Tutorial: Wie die Kälte weicht
Wenn man in einer Stadt lebt, in der das Wetter so kalt ist wie in Berlin, neigt man dazu, Wärme bei Menschen zu suchen. Vor allem, wenn man neu in der Stadt ist, wird diese Suche nach Wärme fast zwanghaft. Gerade im Dezember letzten Jahres war ich in einer solchen Situation – überall war mir kalt. Unverhofft traf ich an der Uni einen guten Freund aus der Heimat und wir beschlossen, spontan ins Kino zu gehen. Auf der langen Fahrt in der U-Bahn wurden zwei, drei Bier gekillt und viel über die Vergangenheit gelacht. Schließlich kamen wir in einem kleinen Kiezkino an, in dem wir die einzigen Zuschauer*innen waren. Der Film hatte begonnen, und wir saßen beide schweigend da, wie in einem Traum von den bunten Tönen besessen… Nach einer Weile bemerkte ich ein seltsames Gefühl in mir: Zum ersten Mal seit meiner Ankunft in Berlin fühlte ich mich frei – frei von der Kälte.
Später Späti?
Ey Späti-Touren! Hört sich blöd an, aber dieser Spaziergang mit Freund*innen, lachen, labern, eben nicht nur an einem Ort bleiben, gibt mir immer dieses miese Freiheitsgefühl.