“Ist das schon antisemitisch?”

An der Freien Universität Berlin scheinen zwischen Präsidium, aktivistischen Gruppen und Freund*innen vollkommen verschiedene Definitionen von Antisemitismus vorzuliegen. Paddy Lehleiter und Line Grathwol haben mit Antisemitismusforscher Klaus Holz gesprochen, um sich dem Thema anzunähern.

Klaus Holz bei seinem Vortrag über „Antisemitismus gegen Israel” an der FU im Juni 2024. Foto: Line Grathwol

Klaus Holz ist Antisemitismusforscher und Autor des 2021 erschienenen Buches „Antisemitismus gegen Israel”. Am 05. Juni hielt er im Rahmen einer Veranstaltungsreihe der Diversity und Antidiskriminierungsstabstelle einen Vortrag über selbiges Thema an der FU.

FURIOS: An der FU wird gerade versucht, eine gemeinsame Definition von Antisemitismus zu finden, um einen gesünderen Diskurs über dieses Thema zu führen. Halten Sie das für sinnvoll?

Holz: Der Versuch, für sich selbst Definitionen und Erklärungen zu finden, ist sicherlich sinnvoll. Aber die Erwartung, dass es die eine Definition von Antisemitismus gäbe, ist ganz sicher falsch. Für kein vergleichbares soziales oder kulturelles Problem gibt es das. Man muss immer das Verständnis von Antisemitismus mit dem konkreten Fall, mit dem man sich auseinandersetzt, abgleichen. Ganz abgesehen davon ist es nie möglich, mit einer Definition Probleme zu lösen. 

FURIOS: Es gibt momentan scheinbar keine Demos, auf denen nicht mindestens eine Parole gerufen wird, die von manchen als antisemitisch eingeordnet werden. Viele gehen deshalb gar nicht demonstrieren. Gibt es Wörter und Parolen, die kontextunabhängig immer als antisemitisch einzustufen sind?

Holz: Natürlich gibt es wie in anderen Diskriminierungsformen Wörter, die leicht als feindliche Schimpfwörter einzuordnen sind, aber um die geht es im aktuellen Diskurs wenig. Demonstrationen fallen nicht vom Himmel. Man kann sich mit den Organisator*innen und Forderungen auseinandersetzen und sich fragen: Wie machen wir explizit deutlich, dass wir keine jüdischen Menschen bedrohen wollen? Was sind Parolen, die wir nicht zulassen wollen? 

Klaus Holz (Antisemitismusforscher)

FURIOS: In Ihrem Vortrag erwähnten Sie, dass die Parole „Stop the Genocide” problematisch ist, da sie auf Protesten unreflektiert verwendet werde und somit eine Täter-Opfer-Umkehr hervorrufe. Juden*Jüdinnen würde damit vorgehalten, sie täten den Menschen in Gaza das an, was die Nationalsozialist*innen ihnen angetan haben. Gleichzeitig merkten Sie an, dass eine Auseinandersetzung mit dem rechtlichen Vorwurf eines Genozids durchaus gerechtfertigt sei. 

Im öffentlichen Diskurs wird oft mehr Kontextualisierung gefordert, aber auf Demonstrationsplakaten ist für eine durchdachte Einordnung oft wenig Platz. Wie kann man einen Kompromiss finden?

Holz: Es gibt durchaus Möglichkeiten: Warum nicht zwei Transparente hinhalten? Auf dem einen steht „Decolonize Palestine” und auf dem anderen „Free Palestine from Hamas”. Nebeneinander. Damit macht man klar, dass man versteht, dass es Kalkül der Hamas ist und war, Israelhass zu schüren und dass sie dafür die palästinensichen Zivilist*innen benutzen. Wenn ich mich für diese Menschen einsetzen will, muss ich mich scharf gegen die Hamas positionieren. Das kann man auch durch Parolen sichtbar machen. Es herrscht ein Konsens in der Antisemitismusforschung, dass die Täter-Opfer-Umkehr das entscheidende Muster des postnazistischen Antisemitismus ist. Das ist erdrückend klar, und davon muss sich distanziert werden. 

FURIOS: Das Präsidium der FU nannte die Parole „Yallah Intifada” als einen der Hauptgründe dafür, bei der Innenhofbesetzung am 7. Mai die Polizei zu rufen. Ist diese Parole als Aufruf zur Gewalt gegen Juden*Jüdinnen zu verstehen?

Holz: Ähnlich wie bei „Stop the Genocide” würde ich sagen: Das überschreitet eine Grenze. Auch hier gibt es weder Kontextualisierung noch Einordnung: Auf welche Intifada wird sich denn bezogen? Während die erste Intifada noch relativ nah an einem gewaltfreien zivilgesellschaftlichen Aufstand war, war die zweite gekennzeichnet durch Selbstmordattentate und wahllose Angriffe auf israelische Zivilist*innen. Wahrscheinlich hatte das Präsidium mit seiner Einschätzung Recht, dass der Protest als Gewaltaufruf gesehen werden kann. Trotzdem hätte es mindestens einmal den Austausch mit den Demonstrierenden suchen sollen, auch wenn es wahrscheinlich zum Scheitern verurteilt war. Vielleicht wäre eine Spaltung oder Differenzierung innerhalb des Camps möglich gewesen. 

Klaus Holz (Antisemitismusforscher)

FURIOS: Bei vielen Debatten merkt man, dass es einigen nur darum geht, sich auf die ‚moralisch richtige Seite‘ zu schlagen. Das zeigt, wie sehr wir alle diese Dichotomie verinnerlicht haben: Es gibt zwei Seiten und dabei eine richtige und eine falsche. Aber was ist mit den Stimmen dazwischen? Die, die sagen „Ich möchte nicht Israel das Existenzrecht absprechen, trotzdem bin ich dagegen, was Netanyahu und seine Regierung gerade in Gaza machen“.  

Holz: Es gibt diese Stimmen, aber meistens werden sie im Konflikt untergepflügt. Das liegt auch daran, dass hoch ambivalente Thesen nicht schlagzeilentauglich sind. Dabei ist diese Position im Grunde keine wahnsinnig intellektuelle Herausforderung. Ich bin wirklich umfassend gegen die gegenwärtige israelische Regierung und war das übrigens schon vor dem 7. Oktober. Die Boykottforderungen an Universitäten und Künstler*innen sind jedoch unproduktiv: Das sind typischerweise kritische Menschen, die nicht auf Netanyahus Linie sind. Man muss unterscheiden von der Frage eines Existenzrechts und der Frage was seit Jahrzehnten mit den Palästinenser*innen passiert. Sich davon zu distanzieren finde ich nicht besonders schwierig. Ja, das ist wieder nicht ganz parolentauglich. Aber selbst da könnte man mal nachdenken, ob man nicht doch eine Parole hinkriegt. 

FURIOS: Was sagen Sie zu den Debatten darüber, Parolen juristisch zu verbieten, wie es zum Beispiel bei der „from the river to the sea” Parole passierte?

Holz: Ich bin sehr dafür, das Strafrecht zu nutzen, wenn es um Antisemitismus geht. Was die Regierung allerdings gerade tut, ist Beschlüsse zu fassen, die keine Gesetzeskraft haben und dann diffus normativ funktionieren. Wir brauchen ein umfassendes Antidiskriminierungsrecht, innerhalb dessen Antisemitismus explizit als Diskriminerungstatbestand vorkommt. Eines von dem ausgehend man dann systematisch sagen kann, dass zum Beispiel bei Beleidiungen mit antisemitischem Motiv eine Strafverschärfung stattfinden kann. Die Parole „from the river to the sea” wurde von der Politik zur Parole der Hamas erklärt, was faktisch nicht richtig ist. Sie ist auch die Parole der Hamas. Solche Diskussionen führen also nicht wirklich weiter. Man drückt sich um das eigentliche Problem, rechtsstaatliche Normen zu definieren. 

FURIOS: Juden*Jüdinnen werden momentan von allen „Seiten” instrumentalisiert. Ist es antisemitisch sich Einzelmeinungen von Juden*Jüdinnen zu Nutze zu machen?

Holz: Also ich würde das etwas vorsichtiger formulieren, aber im Prinzip ja. Die Opferperspektive ist wirklich wichtig, aber sie zu verabsolutieren ist falsch. Sie ist keine privilegierte Erkenntnisposition, so dass sie automatisch die Wahrheit garantiert. Im konkreten Fall mit Antisemitismus reproduziert das implizit einen klassisch antisemitischen Stereotyp. Sicher, in vielen Fällen unfreiwillig. Aber Antisemit*innen haben sich schon immer gerne auf Juden*Jüdinnen berufen. Das nennt man in der Forschung den „Stereotyp des guten Juden”. 

FURIOS: Wie können wir im Unialltag und Wissenschaftsbetrieb Dichotomien aufbrechen und Raum für Diskurs schaffen, der unterschiedliche Positionierungen und Perspektiven zulässt?

Holz: Ich finde den Ansatz „wir müssen reden” grundsätzlich wichtig, sei es in Seminaren, durch Vorträge oder Ähnliches. Ich glaube auch, dass es hilft, wenn die Problematik in den Alltag des Lehrbetriebs sickert und nicht immer nur in einem spezifischen Antisemitismusseminar behandelt wird. Nicht nur in den Sozialwissenschaften, sondern auch in den Naturwissenschaften. Die Uni kann Reflexionsräume öffnen, auch auf abstrakten Ebenen. Man kann sich fragen: Was ist überhaupt eine Dichotomie? Sich ganz fundamental mit Nationalismus auseinandersetzen. Skepsis und Reflexivität fördern. Ziel ist nicht, Ambivalenzen loszuwerden. Ziel ist, Umgangsweisen mit ihnen zu finden und sie auszuhalten. 

Das Buch „Antisemitismus gegen Israel“ kann bei der Bundeszentrale für politische Bildung für 7€ erworben werden. 

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