Geschichte, schreiben, hören und leben

Der Dokumentarfilm „Ihr Jahrhundert – Frauen erzählen Geschichte“ beleuchtet die Lebenswerke fünf außergewöhnlicher Frauen und zeigt, wie sie die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts geprägt haben. Antonia Krämer hat ihn gesehen und reflektiert.

Ausschnitt aus dem Dokumentarfilm Ihr Jahrhundert – Frauen erzählen ihre Geschichte. Buch, Regie, Montage: Uli Gaulke

Mittwochabend. Das Kino im Planetarium bietet eine willkommene Abkühlung zu der drückenden Hitze und füllt sich langsam mit Besuchenden. Von den zehn Leuten im Saal sind neun weiblich und eine männlich gelesen. Viele Frauen sitzen alleine, einige mit Freundinnen. „Ihr Jahrhundert – Frauen erzählen Geschichte“ beschäftigt sich ebenso mit den Frauen, die Geschichte erzählen, als auch mit den Bedingungen der Geschichte selbst. So kann man „Geschichte“ als Zusammenknüpfen von einzelnen historischen Ereignissen verstehen, aber auch als Weitergabe der eigenen Lebenserfahrung. Regisseur Uli Gaulke fragt, wer Geschichte schafft, sie erzählt, sie hört und wie mit dem Gehörten umgegangen wird. Dafür erzählen fünf Frauen von ihrem Leben und wie sie das letzte Jahrhundert prägten.

Die Frauen und ihre Geschichte(n)

Haydée Arteaga Rojas ist eine Geschichtenerzählerin aus Kuba. Tamar Eshel arbeitete als Geheimagentin und ermöglichte während des Zweiten Weltkrieges unzähligen jüdischen Personen die Flucht nach Israel. Nermin Abadan-Unat begründete den ersten Lehrstuhl für politische Soziologie in der Türkei. Sie kritisiert Erdoğans systematische Repression freier Meinungen, insbesondere die der Akademiker*innen, und wie dessen Politik das akademische Klima und die Zugänglichkeit höherer Bildung, für die sie ihr Leben lang kämpfte, gefährdet. Ilse Helbich, eine österreichische Autorin, erzählt unter anderem von ihren Erfahrungen in der Hitlerjugend und wie wichtig es ist, gesellschaftliche Praktiken und Gesetze zu hinterfragen. Nanammal Amma gilt als älteste Yogalehrerin Indiens und unterrichtete über eine Million Menschen. Die Szenerie wechselt zwischen den einzelnen Frauen, ohne diesen Wechsel zu benennen, sodass die Zuschauer*in raten muss, welche Frau in der nächsten Szene erscheint. Man kann diese Orientierungslosigkeit bemängeln oder in ihr nach etwas Universellem suchen, das die verschiedenen Schicksale zu einer übergreifenden Erzählung verbindet. 

Das Altern jenseits von sozialen Normen und Geschlechterrollen

Die Botschaft des Films, dass Alter eben Alter ist, wird letztlich auf die Probe gestellt, als die Todesdaten dreier Frauen eingeblendet werden. Zuerst wollte ich verärgert die Stirn runzeln. Für einen Moment dachte ich, dass es eine totale Verschwendung war, über das großartige Leben von Frauen zu lernen, die doch eh schon gestorben sind. Mein zweiter Instinkt war es, zu lachen. Es schien unfassbar witzig, da die Hauptdarstellerinnen doch gerade noch so lebendig schienen und ihnen sogar ein 120. Geburtstag prophezeit wurde. Zuletzt wurde ich auch traurig. In den 104 Minuten Laufzeit sind einem diese Frauen ans Herz gewachsen, und man hofft, sie würden unsterblich sein. Doch so ist das Leben nun mal nicht. Ihr Jahrhundert zelebriert die Frauen, ihr Leben und ihre Errungenschaften. Altern geschieht von ganz alleine. Was die einzelnen Frauen leisteten, wovon sie Zeuginnen waren, ist nicht weniger wichtig, nur weil sie nicht mehr leben. Sie werden nicht dafür gefeiert, dass sie das Altern besiegten, sondern dafür, dass sie überhaupt gelebt und geschaffen haben. Hätte der Film männliche Protagonisten, glaube ich nicht, dass man sich die Frage des Alters überhaupt stellen müsste. Dass Altern eine gesellschaftlich so zentrale Rolle einnehme, im positiven und negativen, sei nur weiblichen Subjekten vorbehalten. Hier liegt das Genie des Films: Das Alter der Frauen wird nicht in dem Maße positiv aufgewertet, dass kein Raum mehr bleiben würde, um die Frauen als Individuen zu feiern. Es gibt weder den Versuch, das Altern zu umgehen, noch körperliche Einschränkungen, die hohem Alter entstammen, kleinzureden. Sie altern nicht als Frauen, sondern als Menschen.

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