Lise Meitner – die übergangene Pionierin der Kernspaltung

Lise Meitner war ein Physik-Genie: Sie lieferte ihrem Kollegen Otto Hahn die entscheidenden Hinweise zur Entdeckung der Kernspaltung. Trotzdem ging sie leer aus, während er dafür den Nobel-Preis erhielt! Ein Portrait von Sophie von Ploetz.

Illustration: KI (Microsoft Copilot)

Lise Meitners faszinierendes Leben ist geprägt vom Wandel der Zeiten und dem Überkommen von Hindernissen. Sie wird am 17. November 1878 in Wien in eine liberal-jüdische Familie geboren. Sie ist das drittälteste von acht Kindern, ihr Vater ist Rechtsanwalt. Lise ist wissbegierig und ihr Vater fördert sie, doch studieren und der Besuch des Gymnasiums sind ihr als Frau damals nicht gestattet. Also lernt sie von zu Hause aus, legt über langwierige Umwege das Abitur als „Auswärtige“ ab und erkämpft sich mit 23 Jahren schließlich ihren Studienplatz an der Universität Wien. Dort belegt sie ihre Wunschfächer Physik und Mathematik. Zu dieser Zeit eröffnet Max Planck mit der Quantenhypothese der Physik neue Welten und genau dieser Zeitgeist des Umbruchs zieht Lise Meitner magisch an. Nachdem sie mutig an Max Planck herantritt, darf sie trotz ihrer damaligen Stellung als Frau seine Vorlesungen besuchen. Die beiden freunden sich an und 1912 wird Meitner zu seiner Assistentin. Durch ihr persönliches Engagement und Geschick im Verhandeln mit Autoritätspersonen öffnen sich ihr neue Möglichkeiten für eine Forschungskarriere. Bald darf sie selbst Forschungen betreiben – zwar geschieht dies nur in einem versteckten Kellerraum, aber immerhin. Zudem wird ihr ein Kollege zur Seite gestellt, sein Name ist Otto Hahn. Die beiden sind damals im gleichen Alter,  interessieren sich brennend für Radioaktivität und bilden ein tolles Team.

Werke und Weltkriege

1913 zieht das Forscher*innenteam in das neue Kaiser Wilhelm Institut für Chemie in Berlin-Dahlem um. Während des 1. Weltkrieges arbeitet Lise Meitner als Röntgen-Schwester an der Front. Nach Kriegsende setzen Hahn und Meitner ihre gemeinsame Arbeit fort, sie ist nun Abteilungsleiterin. Doch das Glück ist nicht von langer Dauer. Die politische Lage in Deutschland spitzt sich mit der Machtergreifung Hitlers zu und Lise Meitner muss als Jüdin aus Deutschland fliehen: Am 13. Juni 1938 verlässt die Physikerin überstürzt mit zwei Handkoffern Berlin – ihr gelingt die Flucht nach Holland. Sie reist weiter nach Stockholm, wo sie Freunde und Verwandte erwarten. Dort soll sie als Gast am Nobel-Institut arbeiten. Zu diesem Zeitpunkt ist sie 60 Jahre alt und wurde aus ihrer Heimat vertrieben; sie muss eine neue Sprache lernen und hat eine für Frauen zu dieser Zeit einzigartige berufliche Stellung verloren. In einem Brief an eine Freundin schreibt sie 1939: „Die fehlende Arbeit ist ein großer Schmerz; denn es bedeutet das Fehlen jeglichen Sinns in meinem Leben.“  In dieser Lebensphase entsteht der berühmte Briefwechsel mit Otto Hahn, der in Berlin die Kern-physikalischen Forschungen weiterführt. Am 19. Dezember 1938 schreibt Hahn aufgeregt: „Immer mehr kommen wir zu dem schrecklichen Schluß: Unsere Ra[dium]-Isotope verhalten sich nicht wie Ra, sondern wie Ba[rium]. Ich habe mit Straßmann verabredet, daß wir vorerst nur Dir dies sagen wollen. Vielleicht kannst Du irgendeine phantastische Erklärung vorschlagen.“

Hahn schreibt weiter, dass sie ihre Ergebnisse nicht totschweigen könnten, auch wenn sie physikalisch vielleicht absurd wären. Er bittet Meitner inständig um einen Ausweg und fragt, ob es physikalisch möglich sein könnte, dass der Urankern „zerplatzt“ sei. Daraufhin stellt Meitner mit Physiker Robert Fritsch, ihrem Neffen, auf Grundlage von Einsteins Formel über die Umwandlungsfähigkeit von Masse in Energie Berechnungen an. Sie benutzen Hahns experimentelle Befunde als Basis. Anfang Januar 1939 schreibt Meitner schließlich an Hahn zurück: „Ich bin jetzt ziemlich sicher, daß Ihr wirklich eine Zertrümmerung zum Ba habt.“  Die Ergebnisse von Meitners Team in Schweden und Hahns Gruppe in Berlin, die keinen Zweifel an den Energiemengen der Kernspaltung lassen, faszinieren Naturwissenschaftler in aller Welt. Doch bald wird klar, dass ihre Entdeckung eine dunkle Seite hat: Als die erste Atombombe auf Hiroshima abgeworfen wird, wird die Zerstörungskraft der Atomkraft unmissverständlich klar. Otto Hahn und Lise Meitner werden ins Rampenlicht katapultiert! Lise Meitners Anteil wird jedoch vom Nobelpreiskomitee ignoriert: 1945 bekommt Otto Hahn den Nobelpreis verliehen, ohne eine Würdigung für Meitner. Eine Ungerechtigkeit, die Lise Meitner bis heute in den Schatten von Otto Hahn stellt!

Lise Meitner bleibt sich selbst treu

Als überzeugte Pazifistin ist Lise Meitner zu diesem Zeitpunkt entsetzt, dass ihre Arbeit in den Dienst einer Massenvernichtungswaffe gestellt wird. Sie bleibt während des Zweiten Weltkrieges in Schweden und weigert sich, Forschungsaufträge für den Bau einer Atombombe anzunehmen, obwohl sie von den USA immer wieder dazu aufgefordert wird.  Auch wenn die Forscherin nie den Nobelpreis gewinnt, erhält Lise Meitner trotzdem zahlreiche Ehrungen aus aller Welt. Für eine Vielzahl dieser Preise wird sie von Otto Hahn vorgeschlagen. Die beiden Physiker*innen verbindet zeitlebens eine enge Freundschaft. 1960 zieht Meitner zu ihrem Neffen Otto Fritsch nach Cambridge, wo sie bis zu ihrem Tod 1968 für eine friedliche Nutzung der Kernspaltung eintritt.

Auf Lise Meitners Grabstein steht: „Eine Physikerin, die nie ihre Menschlichkeit verlor.“ Und ich finde, besser kann man diese geniale, großherzige Frau nicht beschreiben. Weder Sexismus, Kriege, Rassismus, Ruhm, noch Nobelpreise konnten sie dabei beirren, ihren Weg zu gehen und sich selbst und ihren Freund*innen treu zu bleiben. Allen Widerständen zum Trotz!

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