Magnus Hirschfeld kämpfte vor 130 Jahren für die Entstigmatisierung der Homo- und Transsexualität und eröffnete das erste Institut für Gender- und Sexualforschung in Berlin. Ein Portrait des „Einstein des Sex” von Sophie von Ploetz zum Pride Month.
Magnus Hirschfeld wird 1856 in Kohlberg (damals Pommern, heute Polen) als Sohn eines jüdischen Arztes geboren. Als junger Mann studiert der spätere Sexualforscher erst Sprachwissenschaft und dann Medizin in Straßburg, München, Heidelberg und Berlin. Er promoviert als Arzt bei Prof. Dr. Emmanuel Mendel ( Nervenarzt) mit der Arbeit „Über Erkrankungen des Nervensystems im Gefolge der Influenza”, die auf Daten der 1880 bis 1890er Grippe-Pandemie beruht. Von 1894 bis 1896 führt Hirschfeld eine eigene naturheilkundliche Praxis in Magdeburg, bevor er 1896 nach Berlin Charlottenburg geht. Dort veröffentlicht er seine erste Arbeit zur Homosexualität „Sappho und Sokrates“ unter dem Pseudonym Th. Ramien. Von nun an setzt sich Magnus Hirschfeld sein ganzes Leben lang für die Entkriminalisierung von Trans- und Homosexualität ein. Er versucht durch Forschung Vorurteile und Hass zu überwinden. Für ihn ist Homosexualität angeboren, natürlich und vollkommen wertfrei. „Die Begriffe übernatürlich, unnatürlich und widernatürlich sind Zeichen mangelnder Naturerkenntnis” ist sein Leitspruch.
„Die Begriffe übernatürlich, unnatürlich und widernatürlich sind Zeichen mangelnder Naturerkenntnis.”
Magnus Hirschfeld
Obwohl der Doktor zu seiner Zeit einen revolutionären Beitrag zur Gleichberechtigung von trans- und homosexuellen Menschen erbringt, müssen Magnus Hirschfelds Forschungsansätze heute kritisch betrachtet werden. Selbst Gegner des Rassismus und Freund der Emanzipation, ist der Sexualwissenschaftler doch beeinflusst vom problematischen Zeitgeist der Wissenschaft. Um seine Forschung bekannt zu machen und die Stellung von Homosexuellen in der Gesellschaft zu verbessern, bedient Hirschfeld sich an zu dieser Zeit aufkommenden, rassistischen und eugenischen Denkmustern, unter anderem an der Lehre von gutem und schlechtem Erbgut, das in Menschenrassen vermehrt bzw. vermindert werden soll. Der Doktor führt an, Homosexualität sei ein natürlicher Mechanismus der Natur um die Weitergabe “schlechter Gene” zu verhindern, da viele Familien in denen Homosexualität vermehrt auftrete, über mangelhafte Gene verfügen würden. Hirschfelds Absichten in allen Ehren, aber meiner Meinung nach, ist das aus heutiger Sicht betrachtet blanker Unsinn.
Vereinter Kampf für die Entkriminalisierung der Homosexualität
Magnus Hirschfelds Kampf für die Rechte sexueller Minderheiten geht am 15. Mai 1897 in die nächste Runde: Gemeinsam mit dem Juristen Eduard Oberg, dem Verleger Max Spohr und dem Schriftsteller Franz Joseph von Bülow gründet der Arzt in seiner Charlottenburger Wohnung das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee (WhK). Unter dem Motto „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ kämpft der Verein für die Abschaffung des Paragrafen §175, welcher Homosexualität unter Strafe stellt. Bis Anfang der 1930er Jahre bleibt das WhK der politisch einflussreichste Verein dieser Art. Nach Vorträgen in der ganzen Welt erfüllt sich Magnus Hirschfeld am 6. Juli 1919 aus eigener Tasche einen wissenschaftlichen Traum: Er kauft und eröffnet das erste Institut für Sexualwissenschaft in einem alten herrschaftlichen Gebäude im Tiergarten. Heute steht dort das Haus der Kulturen der Welt. Das Institut ist damals Anlauf- und Beratungsstelle für Trans-und Homosexuelle, bietet Queeren in Not Zuflucht und medizinische Versorgung und beherbergt ein umfassendes Archiv für sexualwissenschaftliche Literatur. Eine der ersten geschlechtsangleichenden Operationen wird hier durchgeführt. Internationale Wissenschaftler*innen beginnen, nach Berlin zu reisen, um das Institut zu besuchen.
Queerer Sehnsuchtsort Berlin
Berlin hatte in den 1920er Jahren eine einzigartige Stellung in der Welt: Es war die erste Metropole, deren Kultur von einem offenen Umgang mit Homosexualität geprägt war. Schon vor über 100 Jahren blühte das queere Leben im historischen Regenbogen-Kiez rund um den Nollendorfplatz – mit 170 queeren Bars und mehreren homosexuellen politischen Bewegungen und Vereinen. Bis 1919 werden 30 verschiedene Magazine für homosexuelles Publikum in Berlin herausgegeben (weltweit gibt es damals nur zwei weitere in Paris und Chicago). Bruno Balz und Erwin Neuber dichten 1924 den Schlager “Bubi, lass uns Freunde sein” für die erste “homosexuelle” Schallplatte. Für “Anders als die Anderen”, den ersten Kinofilm, der jemals Homosexualität thematisiert, schreibt Magnus Hirschfeld 1919 persönlich das Drehbuch und spielt neben Conrad Veidt, Reinhold Schüntzel und Anita Berber die Rolle eines Arztes – sich selbst. Bei den Dreharbeiten lernt er seinen ersten Lebenspartner Karl Giese kennen.
Magnus Hirschfeld und der Nationalsozialismus
Doch Deutschland wird mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten gefährlich für queere Menschen: Hirschfelds Bekanntheit macht ihn auf einer Vortragsreise im Oktober 1920 zur Zielscheibe von Gewalt. In München wird der homosexuelle Arzt auf offener Straße von einer Personengruppe zunächst beleidigt, dann angegriffen und schwer verletzt. Als Folge dieser Entwicklung begibt sich Hirschfeld auf eine Vortrags- und Studienreise durch Nordamerika, Asien und Vorderasien, wo er seinen zweiten Lebenspartner Li Shiu Tong kennenlernt. Sein Leben, seine Forschung und seine Lehre stehen im direkten Gegensatz zur Weltanschauung des aufkommenden Nationalsozialismus. Als freigeistlicher und schwuler Jude gerät er dreifach ins Visier der neuen Machthaber und kehrt aus Angst vor Verfolgung nicht nach Deutschland zurück. Nach einem Zwischenaufenthalt in der Schweiz lässt er sich mit seinen beiden Lebensgefährten in Frankreich nieder. Im Mai 1933 wird Hirschfeld, mittlerweile im Pariser Exil, Zeuge der Zerstörung seines Lebenswerks, des Berliner Instituts für Sexualwissenschaften. Während der Bücherverbrennung auf dem Berliner Opernplatz am 10. Mai 1933 wird ein überwiegender Anteil der Bücher aus den Sammlungen der sexualwissenschaftlichen Spezialbibliothek des Instituts öffentlich verbrannt. Hirschfeld kann seine Arbeit im Exil nicht fortsetzen, die Gründung eines zweiten Instituts für Sexualforschung scheitert. Am 14. Mai 1935, seinem 67. Geburtstag, stirbt Magnus Hirschfeld in Nizza.
1982 wird in Berlin die Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft gegründet, die bemüht ist das sexualwissenschaftliche Erbe des Forschers vollständig zusammenzutragen und kritisch zu dokumentieren. 1994 streicht der Deutsche Bundestag den Paragrafen §175 endlich aus dem Strafgesetzbuch: Fast ein Jahrhundert nach Magnus Hirschfelds Aktivismus ist sein Traum Wirklichkeit geworden! Hirschfelds Kampf für queere Rechte und sein unermüdlicher Einsatz ungeachtet von Hass und Gewalt sind bis heute unvergessen. Seine einzigartige Art, Wissenschaft mit dem Ringen nach Menschenrechten und medizinischen Hilfsangeboten zu verbinden, sichert ihm einen Platz in unserer Reihe „Zurück ins Rampenlicht“.