Wie funktioniert eigentlich eine investigative Recherche? Und wie gefährlich kann es in dem Job zugehen? Investigativjournalist Nico Schmidt von Investigate Europe gab zu Beginn des Semesters für FURIOS einen Workshop. Von den Vorteilen und Tücken seines Berufs erzählt er Nadia Jusufbegovic nun am Beispiel seiner letzten Fälle.
FURIOS: Du hast vor kurzem einen Workshop an der FU gegeben. Hinterher meinte eine Teilnehmerin: „Seine Arbeit klingt für mich fast so cool, wie bei den drei Fragezeichen!“ Findest du, das kann man so sagen?
NICO: Ja, ich finde schon! Häufig fängt eine Recherche mit einem kleinen Hinweis oder einer Beobachtung an. Dann muss ich versuchen, die Puzzlestücke zusammenzusetzen und eine Geschichte zu erzählen, die manche Leute lieber geheim halten würden. Dafür habe ich Wochen und manchmal auch mehrere Monate Zeit. Das ist ein großes Privileg. So viel Zeit zu haben kann aber auch belastend sein, denn ich tauche dann sehr lange ab und bin nur für mich. Damit muss man auskommen. Gleichzeitig ist es super spannend und auch schon mal richtige Detektivarbeit: Ich folge den Spuren von Menschen oder Firmen, die „Böses“ getan oder sich mutmaßlich illegal verhalten haben und versucht, mehr darüber herauszufinden. Das führt von Instagram-Accounts zum Auftun von Dokumenten bis hin zum Herunterladen von PDF-Katalogen auf Arabisch. Es ist alles ziemlich aufregend und cool.
FURIOS: Gibt es bei deiner Arbeit bei Investigate Europe einen typischen Rechercheprozess oder ist das jedes Mal anders?
NICO: Jede Recherche ist besonders auf ihre Art und Weise. Ich recherchiere meistens in unterschiedlichen Milieus. Dabei an Informationen zu kommen, ist nicht immer gleich leicht. Bei einer Recherche zu Pflegekonzernen fiel auf, dass viele Betroffene einen hohen Leidensdruck erfahren und offener mit einem sprechen als beispielsweise Menschen vom Militär.
Im Kern haben Recherchen aber häufig eine ähnliche Struktur: Ich versuche möglichst früh eine Hypothese zu formulieren. Mit der Recherche will ich sie dann belegen oder widerlegen. Dabei arbeite ich mich langsam vor. Ich fange in der Regel damit an, mit Personen zu sprechen, die weiter weg sind vom Geschehen und arbeite mich weiter vor. Im Zweifelsfall rede ich erst ganz am Ende der Recherche mit den Leuten, die direkt betroffen sind, um so viel wie möglich vorher zu wissen. Denn manche Gespräche kann man auch nur einmal führen.
„Ich habe einmal eine Recherche gemacht, wo jemand Privatinformationen über mich im Internet veröffentlicht hat.”
FURIOS: Das Bild, das man als Laie vom Investigativjournalismus hat, ist häufig von Gefahren geprägt. Wie würdest du das Gefahrenpotential des Berufs einschätzen?
NICO: Das stimmt total. Als ich in der Branche angefangen habe, waren „Pass auch dich auf!“ Worte, die ich häufig gehört habe. Gleichzeitig habe ich bisher noch keine Erfahrung gemacht, bei der ich Angst vor physischer Gewalt haben musste. Ich habe einmal eine Recherche gemacht, wo jemand Privatinformationen über mich im Internet veröffentlicht hat. Dort stand auf einmal, wo ich lebe und wie groß meine Wohnung ist. Das hat mich natürlich erstmal verunsichert. Am Ende habe ich herausgefunden, dass ich vor Jahren eine Anzeige bei WG-Gesucht eingestellt habe, als ich eine*n Mitbewohner*in suchte. Ich habe eher Angst vor rechtlichen Schritten als vor physischen Übergriffen.
Eine unserer Recherchen hat dazu geführt, dass der Aktienkurs eines Unternehmens ziemlich abgesackt ist, das heißt, das Unternehmen war auf einmal mehrere Millionen Euro weniger Wert. Wenn ich dann in meinem Text irgendwas schreibe, was ich nicht final belegen kann und ein betroffenes Unternehmen gegen mich klagen würde, könnten schon hohe Entschädigungssummen von mir gefordert werden. Deshalb schlottern mir vor jeder Veröffentlichung schon ein bisschen die Knie. Im Zweifelsfall lassen wir einen Anwalt unsere Artikel lesen und diskutieren dann mit ihm, was wir sicher belegen und schreiben können und was nicht..
FURIOS: Vor ein paar Tagen habt ihr bei Investigate Europe eure jüngste Recherche herausgebracht. Würdest du den Fall und eure Ergebnisse kurz beschreiben?
NICO: Bei unserer letzten Recherche, die sich im Groben mit der Pharmaindustrie beschäftigt hat und mit der Preisgestaltung und Verfügbarkeit von Medikamenten, habe ich persönlich vor allem dazu recherchiert, wie in den unterschiedlichen EU-Ländern Medikamente überhaupt für die Menschen zugänglich sind.
FURIOS: Ihr habt dreißig Länder untersucht und eure Ergebnisse waren erschreckend.
NICO: Genau. Es gibt immer wieder Berichte darüber, dass in Europa wichtige Medikamente sehr ungleich verfügbar sind. Verfügbar heißt, dass das öffentliche Gesundheitssystem die Kosten dafür übernimmt. Wenn ein wichtiges Krebsmedikament in der Apotheke liegt, eine Behandlung aber 20.000 Euro kostet, kann sich das ein Mensch in Rumänien nicht leisten. Ich könnte mir das auch nicht leisten! Deswegen wollten wir wissen, wo die Gesundheitssysteme die Behandlung mit so wichtigen Medikamenten übernehmen. Daraufhin haben wir uns zusammengeschlossen mit Kolleg*innen aus anderen Staaten und haben öffentliche Datenbanken und Gesundheitsministerien abgefragt. Am Ende gab es die Erkenntnis: In einigen Ländern fehlen wirklich massiv Medikamente.
Also sind Kolleg*innen in Estland, Ungarn, Litauen und weiteren Ländern losgegangen und haben mit Betroffenen gesprochen, die die Medikamente, zu denen der Staat die Kosten nicht übernimmt, dringend benötigen. So haben wir auch die Geschichte von einem kleinen Mädchen gehört, das eigentlich mit einem Medikament für Mukoviszidose behandelt werden könnte, bis heute aber keinen Zugang dazu hat. Solche Fälle zeigen wirklich nochmal, wie wichtig geographisch grenzüberschreitende Recherchen sind.
„Und man sollte immer mit offenen Augen durch die Welt laufen, weil es noch so viele Geschichten zu erzählen gibt.”
FURIOS: Ich stelle mir die Kommunikation mit Betroffenen als ein Unterfangen vor, an das man sehr sensibel herangehen muss.
NICO: Es ist von Fall zu Fall unterschiedlich. Manche Menschen wollen gerne über ihre Erfahrungen sprechen, anderen fällt es schwer, sich zu öffnen und zu teilen, was ihnen widerfahren ist. Die Gespräche sind häufig sehr sensibel, da es oft um Themen geht, die bei den Menschen viel Leid ausgelöst haben. Da kann ich häufig einfach nur empathisch zuhören und am Ende auch niemanden zwingen, mit mir zu reden. Es hilft immer, den Menschen auf Augenhöhe zu begegnen.
FURIOS: Wenn ihr solche Offenlegungen publiziert, bekommt ihr manchmal auch die Resonanz, dass ihr etwas zum Positiven verändert habt?
NICO: Man veröffentlicht eine Recherche und so viel hört man dann ehrlicherweise gar nicht mehr. Die Artikel werden gedruckt, die Fernsehsendungen werden ausgestrahlt und dann herrscht erstmal Stille. Aber es gibt auch Sachen, die wir schon bewegt haben. Bei unserer Recherche zu dem Pflegeunternehmen haben nach der Veröffentlichung dann auch die Strafverfolgungsbehörden angefangen zu ermitteln. Man sieht, dass dort etwas passiert und es zur Diskussion anregt, auch auf politischer Ebene.
Nach einer anderen Recherche gab es eine Petition, die von Greta Thunberg verbreitet wurde. In kurzer Zeit unterzeichneten sie über eine Million Menschen. Diese Recherche beschäftigte sich mit dem bis dahin kaum bekannten Energiecharta-Vertrag, der das Erreichen der Pariser Klimaziele gefährdete. Inzwischen steigen mehrere Staaten aus dem Abkommen aus. Natürlich sind wir dabei nur ein kleines Zahnrad im großen Getriebe gewesen, aber das ist trotzdem ganz schön cool.
FURIOS: Was würdest du jemandem raten, der*die plant, in den Investigativjournalismus zu gehen? Oder was hättest du gerne vorher gewusst?
NICO: Wenn man neu anfängt, sollte man nicht denken, dass es immer um große Skandale geht. Manchmal sind es auch Dinge in der unmittelbaren Umgebung. Das können auch Missstände im Umfeld einer Hochschule sein, die im Dunkeln ablaufen und es verdienen, mal genauer beleuchtet zu werden. Man sollte sich nicht davor scheuen, auf kleiner Ebene anzufangen. Und man sollte immer mit offenen Augen durch die Welt laufen, weil es noch so viele Geschichten zu erzählen gibt.
FURIOS: Vielen Dank für das Interview.