“Das hat mit dem Schutz von jüdischem Leben wenig zu tun”

Im Diskurs über den Nahostkonflikt werden anti-zionistische jüdische Stimmen unsichtbar gemacht, kritisiert Dr. Emilia Roig. Warum they sich von Diskreditierungsversuchen nicht unterbringen lässt, erklärt die Politolog*in im Interview mit Anaïs Agudo-Berbel, Luca Klander und Paddy Lehleiter.

Luca Klander und Paddy Lehleiter beim Interview mit Emilia Roig im pro-Palästina Camp auf dem Campus der FU. Foto: Linda Wagner

Dr. Emilia Roig hielt am 5. Juli einen Vortrag an der FU mit dem Titel „Is Antizionism antisemitic?“.

FURIOS: In deiner Forschung beschäftigst du dich mit verschiedenen Formen von Unterdrückung, einem Thema, das mit vielen -ismen und kontroversen Diskussionen verbunden ist. Warum trifft gerade das Thema Antizionismus auf so viel Gegenwind?

Emilia Roig: Das ist keine einfache Situation, vor allem weil die Kräfte gegen eine Perspektive wie meine sehr gut koordiniert sind. Dass der Diskurs um Antizionismus so angespannt ist, hat damit zu tun, dass er hier in Deutschland eine sehr wichtige politische und ideologische Funktion erfüllt. Deutschland hat, über das gesamte politische Spektrum hinweg, ein Interesse an der Verschmelzung von Zionismus und Judentum. Gerade diese Verschmelzung führt aber zur Zunahme von Antisemitismus und ist gefährlich für jüdische Menschen.

FURIOS: Vor deinem Vortrag hast du in deiner Instagram-Story gepostet, dass es Versuche gab, ihn zu canceln. Als wir heute zum Henry-Ford-Bau kamen, war er vollgeklebt mit Flyern, die dich diskreditieren. Wie gehst du mit deiner Position als jüdische, antizionistische Person im öffentlichen Raum momentan um? Wie fühlst du dich damit?

ER: Ich fand es sehr gut und wichtig, dass die Stabsstelle für Antidiskriminierung und Vielfalt der FU diesen Vortrag organisiert hat, gerade nachdem Stimmen wie meine lange Zeit unsichtbar gemacht und marginalisiert wurden. Sie unterstützt so eine Bewegung, die hier mit sehr viel Gegenwind und Gewalt konfrontiert ist – nicht nur von Polizeigewalt, auch von kultureller Gewalt. Als jüdische Person in Deutschland, die den Zionismus nicht unterstützt, ist meine Position eine ziemlich interessante, weil die Menschen, die mir mit Schmierkampagnen wie der heutigen schaden wollen, eben nicht-jüdische Deutsche sind. Diese Kampagnen sind im Übrigen ein bisschen lächerlich. Sie stellen mich dar, als wäre ich eine Hamas-Unterstützerin, eine Terroristin, weil ich angeblich irgendwelche Bilder geliked hätte. Bei denjenigen von ihnen, die selbst nicht jüdisch sind, finde ich es interessant, mir Antisemitismus zu unterstellen. Diese Unterstellungen beziehen sich dabei immer auf Israel und meine Kritik am Zionismus. Ihr Handeln folgt zwei antisemitischen Mustern: Sie verschmelzen einerseits Antizionismus mit Antisemitismus. Und sie mobilisieren andererseits den good Jew / bad Jew – Binarismus und stilisieren mich und andere als schlechte Jüd*innen. Als Jüd*innen, die antisemitische Verschwörungstheorien verbreiten, auch wenn sie nicht klar benennen können, welche das sind. 

FURIOS: Deine Forschung ist sehr intersektional, beschäftigt sich also mit dem Zusammenwirken unterschiedlicher Unterdrückungsmechanismen. Wie sind Rassismus und Antisemitismus miteinander verschränkt?

ER: Antisemitismus und Rassismus existieren in einem Kontinuum, sie sind miteinander verbunden und haben das gleiche Fundament. Beide haben spezifische Historizitäten und Spezifizitäten, die wichtig sind zu unterscheiden, aber nichtsdestotrotz wäre es kontraproduktiv und historisch falsch, Antisemitismus als etwas komplett separates zu sehen. Die scharfe Abgrenzung der beiden voneinander hat mit einer “Teile und Herrsche”-Strategie zu tun. Es wird versucht, muslimische und jüdische Menschen zu antagonisieren und sie so darzustellen, als könnten sie nicht miteinander zusammenleben. Als wäre es eine inhärente Eigenschaft, nichts mit der jeweils anderen Gruppe anfangen zu können – ob in politischen, kulturellen oder ideologischen Kontexten – und das stimmt einfach nicht. Es ist ein Konstrukt des Zionismus. Nur so lässt sich die Gewalt gegen Palästinenser*innen rechtfertigen. Sie ist mit der Annahme verbunden, dass jüdische und muslimische Menschen von Natur aus nicht in einem Raum bleiben könnten, ohne dass erstere Gewalt von letzteren erfahren. Das ist einfach falsch. Es ist wichtig zu zeigen, dass jüdisch-muslimische Freundschaften existieren.

Sie verschmelzen einerseits Antizionismus mit Antisemitismus. Und sie mobilisieren andererseits den good Jew / bad Jew – Binarismus und stilisieren mich und andere als schlechte Jüd*innen.

Emilia Roig

FURIOS: Im Uni-Diskurs dreht sich viel um bestimmte Wörter, vor allem im Kontext von Protesten. Ist es aus deiner Sicht antisemitisch, Israel als Kolonialstaat oder Apartheidstaat zu bezeichnen?

ER: Diese Bezeichnungen sind faktische Bezeichnungen – genau wie zu sagen, dass Israel ein ethnonationlistischer Staat ist. Das ist eines der Gründungsprinzipien von Israel. Auch Kolonialismus und Apartheid sind Beschreibungen einer faktischen Situation, in diesem Fall der praktischen Umsetzung des zionistischen Projekts. Auch Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch oder Amnesty International greifen auf diese beiden Bezeichnungen zurück. Deshalb stellt sich die Frage: Sind all diese Organisationen nur von Israelhass und Antisemitismus motiviert? Sicherlich nicht. Sie sind in erster Linie dadurch motiviert, Menschenrechte für palästinensische und jüdische Menschen zu sichern. Auf meiner Wikipedia-Seite steht, ich sei antisemitisch, weil ich von „Besatzung“ spreche. Das ist aber eine faktische Beschreibung. 

FURIOS: In deinem Vortrag hast du über die Instrumentalisierung von Antisemitismusvorwürfen gesprochen. Wie beeinflusst das aus deiner Sicht die wissenschaftliche Debatte?

ER: Es hat einen sehr negativen Einfluss. Aber ich glaube, es wird auch immer mehr als das entlarvt, was es ist: eine Strategie. Sie funktioniert nach wie vor, weil wir in einem Land leben, das tief verankert antisemitisch ist und gleichzeitig ein Interesse daran hat, dass eine antizionistische Bewegung hier keinen Platz findet. Denn das würde das Selbstbild Deutschlands als ein philosemitisches Land gefährden und das Narrativ, den Antisemitismus überwunden zu haben, anfechten.

FURIOS: Glaubst du das liegt auch daran, dass wir Antisemitismus als ein individuelles Problem sehen und blind gegenüber seinen historischen und institutionellen Dimensionen sind?

ER: Diese Dimensionen werden ausgeblendet, weil es ein Interesse daran gibt, diese jüdischen Ängste zu instrumentalisieren. Jüdische Menschen haben überall auf der Welt Angst, weil sie seit Jahrhunderten Ausgrenzung und Verfolgung erleben. Deshalb ist es eine besonders kritische Situation: Man sollte diese Ängste ernst nehmen und ihnen Raum geben, gleichzeitig hat diese Instrumentalisierung [von Antisemitismusvorwürden, anm. d. Redaktion] gar nicht zum Ziel, dass jüdische Menschen in Sicherheit leben. Es gibt in Deutschland zwar sehr viel Aktionismus, aber dieser ist meist nur eine politische Unterstützung des Zionismus und von Israel. Das hat mit dem Schutz von jüdischem Leben wenig zu tun. 

FURIOS: Am 7. Mai war die Besetzung der FU von pro-palästinensischen Protestierenden in aller Munde, vor allem die Reaktion des Präsidiums, das sehr schnell die Polizei gerufen hat. Jetzt gibt es viele Vorträge sowie Workshops zum Thema Antisemitismus und anti-muslimischem Rassismus. Wie blickst du darauf, was sind deine Wünsche und Ansprüche an den universitären Diskurs?

ER: Es muss ein Ort sein, an dem unterschiedliche Perspektiven existieren können, vor allem Bewegungen für Gerechtigkeit und Freiheit. Wenn die Freie Universität so heißt, dann ist es wichtig, dass dieser Ort auch Freiheit gewährleistet. Wir sehen momentan, was für eine Gefahr eine offene Gesellschaft für die zionistische Politik darstellt und wie wichtig es für Deutschland ist, antizionistische Stimmen zu marginalisieren. Ich erwarte, dass es morgen große Schmierkampagnen gegen mich geben wird. Doch das kann mich nicht davon abhalten, als jüdische Person in Deutschland über diese Themen zu sprechen. Ich begrüße es sehr, dass die FU ein Zeichen gesetzt hat: Wir leben noch in einer Demokratie, und wir müssen davon Gebrauch machen. Alle Perspektiven müssen repräsentiert sein. 

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