»Wo willst du in 800 Jahren leben?«

Es ist das Jahr 2824. Die Partei für schulmedizinische Verjüngungsforschung ist an der Macht. Altern ist nun heilbar und ein unbegrenzt langes, gesundes Leben möglich. Eine Glosse.

Quelle: iStock/tonaquatic

Das Erste, was sich änderte? Flohsamenschalen und Brottrunk für die Darmgesundheit. Ein allgemeines Rauch-, Alkohol- und Zuckerverbot. Verpflichtende monatliche Gesundheitschecks, wöchentliche Therapiesitzungen, tägliches Tracking der Vitalwerte. Supplementieren statt ernähren. LSF100 Sonnencreme, Kraft- und Ausdauertraining, neun Stunden Schlaf.

Seit die Partei für schulmedizinische Verjüngungsforschung ins Parlament gewählt wurde, ist alles anders. Mit dem Reparaturansatz lässt sich das Altern umkehren, der Tod verhindern. Schließlich sind dessen Kennzeichen recht überschaubar – und allesamt heilbar. Krebs, Herzkrankheiten und Demenz sind nichts anderes als reparierbare Schäden auf zellulärer Ebene. Durch Tissue Engineering, Senolytika und Antikörpertherapien wurden alle Verfallserscheinungen aus unserem Leben verbannt, die Altersschwäche schließlich besiegt.

Sterben ist jetzt eine Entscheidung, der Tod kein alltägliches Phänomen mehr, sondern entweder ein plötzliches Ereignis, wenn Menschen ihrem Leben selbst ein Ende setzen; oder es ist ein langwieriger, von Diffamierungen begleiteter Prozess, wenn Menschen Verjüngungsmaßnahmen verweigern und nach Jahrzehnten des Alterns ihrem morbiden Körper erliegen. Nicht Glück, nicht Freiheit – Gesundheit ist nun das höchste Gut.

Neben der Multimorbidität gibt es aber noch ein weiteres Horrorszenario: Der Parteigründer übertrieb es mit der Zellverjüngung so, dass er schließlich rückwärts alterte. Sein Bart wurde wieder lichter, seine Reden so pubertär, dass er den Vorsitz verlor. Er schrumpfte zusehends, fiel irgendwann nach vorne und krabbelte, kroch weiter, verlernte zu sprechen, zahnte und ist nun über seine Nabelschnur mit einer künstlichen Plazenta verbunden.

Seitdem wird ein körperliches Alter von 25 Jahren angestrebt – wenn die Leistungsspitze erreicht und das Gehirn ausgewachsen ist, die Kollagenproduktion und Muskelzunahme aber noch nicht abfallen. Nur winzige Fältchen, die manchen Gesichtern schon etwas Reife verleihen, nehmen wir dafür in Kauf. Wer möchte, kann mit 263 und 439 Jahren schwanger werden – aus unterschiedlichen Beziehungen, denn die Ehe wurde abgeschafft, seit der Tod niemanden mehr scheiden kann. Und an Gott glaubt ohnehin keine*r mehr. Auch das säkulare Carpe Diem ist überholt, denn die Angst vor Vergänglichkeit und letztlich dem Tod, die uns einst zu Höchstleistungen brachte, ist verschwunden. Die Zeit vergeht genau wie früher, wir laufen nur langsamer an ihr vorbei. Und studieren, lernen, bereisen, was wir wollen. Außer die Malediven (die sind versunken), Istanbul (von Erdbeben zerstört) und Venedig (erst zu heiß, dann versunken). Dafür haben wir Platz auf dem Mars.  

Und ich? Ich gehe über Orangenbaumblätter zu meinem Haus am See und den 100 Enkelkindern. Oder Eltern, sie sehen eh alle gleich alt aus. Dann lesen im Liegestuhl. Am liebsten »Lord Voldemort« – die Geschichte eines tragischen Helden, dessen Traum vom unbegrenzten Leben an einem kleinen Jungen scheitert, der die Welt mit seinen hypnotisierenden Augen und perfiden Zaubersprüchen gegen ihn aufhetzt.

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