Gegen die Objektivitätsutopie

Die Universität ist sowohl ein Ort der Wissenschaft als auch Schauplatz politischer Diskurse. Dass Lehre und Forschung neutral, objektiv und unbeeinflusst von persönlichen Einstellungen stattfinden, ist eine Illusion. Ein Plädoyer für das Ende der selbstverständlichen Objektivität an der Universität.

Illustration: anonym

Im Februar 2022 rief der AStA FU dazu auf, den Habilitationsprozess von Dr. Michael Grünstäudl zu unterbinden. Grund dafür war dessen Unterzeichnung der »Gemeinsamen Erklärung 2018«, bei der es um die vermeintliche »Gefährdung Deutschlands durch illegale Masseneinwanderung« geht. Dabei handelt es sich um ein politisches Statement, das mehrfach als rechtsextrem eingestuft wurde. In einem Antwortstatement warf der Dozent, der sich als »unpolitisch« beschreibt, dem AStA vor, »Cancel Culture etablieren zu wollen«. Diese charakterisiert er als: »Versuche, Wissenschaftlern durch Unterstellungen, gepaart mit Forderungen von Lehr- oder Sprechverboten, eine diskreditierende politische Haltung zuzusprechen«. Cancel Culture – um die Auseinandersetzung mit diesem Begriff kommt heute niemand herum. Blicken wir einmal über den akademischen Kontext hinaus zur Unterhaltungsbranche.

»Comedy statt Cancel Culture«. So bewirbt Comedian Luke Mockridge seine neue Tour auf Instagram. Damit reagiert er auf den Hashtag #KonsequenzenFürLuke, der sich im Internet verbreitete, nachdem ihm mehrere Frauen, unter anderem eine Ex-Partnerin, sexuelle Gewalt vorwarfen. Der Hashtag wurde vielfach geteilt, um Aufmerksamkeit zu schaffen und rechtliche, aber auch berufliche Konsequenzen zu fordern. Obwohl solche Konsequenzen im Endeffekt oft nicht gezogen werden, skandieren auch andere Kulturschaffende wie Joanne K. Rowling oder Lisa Eckhart, die in der Vergangenheit durch transfeindliche und antisemitische Aussagen auffielen, eine Einschränkung der künstlerischen Freiheit. Sie alle sind weiterhin auf Bühnen unterwegs, auch Dr. Grünstäudl ist noch an der FU angestellt. Wir können also festhalten: Gecancelt im Sinne von Sprechverboten, wie es Dr. Grünstäudl definiert, wird in Deutschland kaum jemand. Der Blick auf die Unterhaltungsbranche hält aber noch einen zweiten Aspekt bereit: Die Frage, ob Personen isoliert von ihren problematischen Aussagen stehen können und sollten. Im universitären Kontext wird diese indes kaum gestellt. Was Dozierende privat denken und tun, hat ja schließlich keinen Einfluss auf ihre Forschung und Lehre. Oder?

Objektivität ist ein Grundsatz in der Hochschulbildung. Und doch müssen wir uns eingestehen: Das Idealbild der*s neutralen, unpolitischen Dozierenden ist quasi unerreichbar. Ein weiterer Vorwurf des AStA war Grünstäudls Nutzung der Plattform GitHub einerseits für seine Lehrinhalte, andererseits für das Teilen von Materialien, die als neofaschistisch eingestuft wurden, z.B. Videos von Martin Sellner aus der identitären Bewegung. Wenn Lehrende wie Dr. Grünstäudl private Websites sowohl für die Lehre als auch für das Teilen rechtsextremer politischer Inhalte nutzen, sollten wir hinterfragen, warum wir sie als neutrale Instanz handeln. Noam Chomsky, emeritierter Linguistikprofessor und politischer Aktivist, traf sich mehrmals mit dem zum Zeitpunkt bereits verurteilten Sexualstraftäter Jeffrey Epstein und sagte, der Kontakt sei »none of anyone’s business«. Niemand forderte Konsequenzen oder hinterfragte seinen moralischen Kompass, vor allem eine Frage blieb aus: Kann sein Aktivismus isoliert von seinem privaten Verhalten stehen? Auch strukturell manifestiert sich ein Mangel an Fokus auf den Einfluss spezifischer Personen auf Forschung: Das MIT nahm 2013 mehrere Spenden von Epstein an. In einem Bericht erklärte die Uni, dass es zu dem Zeitpunkt keine Grundsätze gegeben habe, wie mit kontroversen Spender*innen umgegangen werden soll. Lehrende hielten die mehr als problematische Quelle der Spenden geheim, ermöglicht durch die mangelnden universitären Strukturen. 

Wir diskutieren gerne hitzig über die problematischen Aussagen von Schauspieler*innen, Comedians und Politiker*innen. Aber tun wir das auch bei Forschung und Lehre? Wenn Menschen an Parteien spenden, sehen wir das als Einflussnahme auf die Politik. Wenn Kulturschaffende diskriminierende Aussagen oder Verhalten an den Tag legen, trennen wir das nicht von ihrer Arbeit. Im akademischen Raum sollten wir genauso scharf verurteilen. Gerade an der Universität, als Stätte des politischen Aktivismus, sollten wir unserer Empörung Raum geben und Forschende, genau wie Politiker*innen und Kulturschaffende, als politische Personen mit Voreingenommenheiten wahrnehmen. Forschung und Lehre müssen kritisch bleiben. Problematische Gesinnungen sollten nicht länger unter dem Deckmantel des »unpolitischen« Dozierenden verborgen werden können. Unhinterfragte Objektivität canceln!

Autor*in

Ähnliche Artikel

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert