Die Schaubühne ist eines der größten Theater Berlins. Seit 2022 läuft dort auch das Stück “Erinnerung eines Mädchens”, basierend auf dem gleichnamigen Roman von Annie Ernaux und entstand in einer Zusammenarbeit von Sarah Kohm, Elisa Leroy und Veronika Bachfischer. Das Gespräch mit der Hauptdarstellerin Veronika Bachfischer mit Antonia Krämer wird in diesem Porträt wiedergegeben.
Eine Erfahrung ist oftmals mehr, als sie im Augenblick scheint, und kann erst mit weiterer Lebenserfahrung wirklich aufgearbeitet werden. Der autobiografische Roman “Erinnerung eines Mädchens” ist Produkt der Einordnung der ersten sexuellen Erfahrungen, die Annie Ernaux in ihrer Jugend machte. Diese sind für sie mit einer Erinnerung an Scham verbunden, die sie nun versucht aufzuschlüsseln. In einem Sommercamp hatte die siebzehnjährige Annie ersten sexuellen Begegnungen, für sie eine Erinnerung der Scham, und beginnt nun diese aufzuschlüsseln und einzuordnen. Der Roman zeugt von dem Scharfsinn der inzwischen mit dem Literaturnobelpreis prämierten Autorin und dem Talent, schwer ansprechbaren Themen eine Stimme zu schenken.
Die Aufschlüsselung auf der Bühne
“Erinnerung eines Mädchens” war das erste Stück, das ich gesehen habe, als ich für mein Studium nach Berlin gezogen bin, und mir ein bisher neues und unglaublich kraftvolles Medium zugänglich gemacht hat. Im Theater hat man einen designierten Raum, welcher gezielt von Körpern und Objekten gefüllt wird, und ein Publikum, das ihn observiert und auf ihn reagiert. Die Schauspielenden nehmen eine Rolle ein, und versuchen ihren notwendigerweise subjektiven Zugang als einen objektiven darzustellen. Das Publikum beobachtet nicht nur, es gibt keine klare Trennung zwischen Bühne und Sitzen, vielmehr reflektiert es und ordnet sich in dem gespielten ein. “Erinnerung eines Mädchens” geht meisterhaft mit diesem Medium um, und verwendet es, um den universalen Charakter der traumatischen Erfahrungen Annie Duchesnes zu kommunizieren. Der Impuls, der mich in diesem Stück besonders bewegte, und auch für wiederholte Besuche mit allen diversen Personen in meinem Umfeld sorgte, war, dass das Narrativ wiederholt zwischen der siebzehnjährigen Annie zu der Schauspielerin Veronika Bachfischer wechselte. Sie sprang zwischen Erfahrungen der inzwischen mit dem Literaturnobelpreis prämierten Autorin und ihren eigenen, reflektierte mit unglaublicher Aufrichtigkeit über Schlüsselmomente ihres Lebens, und schaffte es aber auch, sich immer wieder selbst in der jungen Annie zu finden.
Staffellauf und Puddingtragödie
Das Stück, das auf Annie Ernauxs gleichnamigem autobiografischen Roman basiert, fungiert für Hauptdarstellerin Veronika Bachfischer als Staffellauf. Ihre Präsenz auf der Bühne, die mich so in den Bann gerissen hat, und das Einbringen eigener Erfahrungen signalisieren die Weitergabe einer Geschichte, welche sich zwar 1958 ereignete, doch schon von unzähligen Frauen davor, danach, und vermutlich gerade gelebt wurde und wird. Mit ihrem Spiel gab Bachfischer diesen Stab an das Publikum, unter anderem auch an mich, weiter, in der Hoffnung, dass Zuschauende über ihre eigenen Erfahrungen reflektieren können und die Werkzeuge bekommen, über diese zu reden.
Veronika eröffnete mir, dass ein Teil der Vorbereitung der Produktion dem Pudding und seiner Rezeptur gewidmet war, welcher im Stück geworfen wird. Sie nannte es die “Puddingtragödie”. Er durfte weder kleben noch die Kleidung des Publikums oder die Bühne an sich verfärben. Schlicht: nach dem Ende der Vorstellung sollte in Rekordzeit wieder alles so sein wie davor. Dass der Pudding nicht kleben durfte, hänge wohl auch damit zusammen, dass die Produktion von einem überwiegend weiblich-gelesenen Team gemacht wurde. Im Vergleich zu Produktionen, bei denen das Ensemble oder die Crew größtenteils männlich ist, müsse sich keine großen Sorgen um die Kleidung des Publikums oder die Wände der Bühne gemacht werden.
Schmunzelnd merkte ich an, dass genau dieser Zusammenhang ironisch sei, dass die größte Sorge eines Stücks, dessen Ziel ist, einen Impuls der Auseinandersetzung in die Welt setzen wollte, der ist, dass ihre Produktion nicht an den Zuschauenden und der Bühne hängen bleiben darf – eine Nebenerscheinung des patriarchalen Systems, welche Erfahrungen wie die Annies immer wieder befähigt.
Erinnerung eines Mädchens spielt ab Samstag, dem 16.11.2024, jeden Abend bis zum 21.11.2024 in der Schaubühne. Am 19. November kosten die Karten für alle nur die Hälfte des Originalpreises, die Vorstellung könnt ihr also schon für 5,50 € besuchen. An den restlichen Tagen kostet eine Karte für Studierende die gewöhnlichen 9€. Das Stück thematisiert sexualisierte Gewalt und ein gestörtes Essverhalten.