Listen-Wirrwarr in den Geisteswissenschaften

Unangekündigt wird die Anwesenheit in Germanistik- und Theaterwissenschaftsvorlesungen ab diesem Semester streng protokolliert. Das gewissenhafte Durchsetzen der Präsenzpflicht soll unter anderem der Fairness dienen. Doch ist Recht nicht immer gerecht. Und: die Intransparenz der FU. Ein Kommentar von Sven Gregor.

Fortan darf man hier eine Menge Zeit verbringen. Ob es einem passt oder nicht. Bild: Sven Gregor

Zum Start des Wintersemesters 24/25 saß ich vorfreudig im Hörsaal, als die Dozentin ankündigte, dass es nun eine neue Regelung zur Anwesenheitskontrolle gebe. Eine lächerlich lange Liste, in die man sich eintragen soll, wurde gereicht. Man dürfe dreimal unentschuldigt fehlen und danach bitte ein Attest einreichen. Wie bitte? Ein Kommilitone hob bereits seine Hand und wies darauf hin, dass Studierende aus höheren Semestern nach der Ordnung studieren, mit der sie angefangen haben. Die Dozentin versicherte uns, Licht ins Dunkel zu bringen. Tatsache: wenige Tage später kam die Rundmail, in der bestätigt wurde, dass die neue Regelung nur für Studierende im ersten Semester gilt. Dies war allerdings die letzte erfreuliche Nachricht.

Zeit muss man totschlagen

In einer weiteren Vorlesung, die ich nachhole, saß ich in einem winzigen Hörsaal, umgeben von lauter Erstis, die sich lautstark miteinander unterhielten. Mühevoll konnte der Dozent am Ende des akademischen Viertels für Ruhe sorgen. Dennoch fragte ich mich, was ich hier noch soll. Immerhin absolvierte ich das Seminar zum Modul, wo ich auch die Prüfungsleistung erbrachte, bereits im Sommersemester. Auch sind mir Teile der Vorlesung durch einen Kommilitonen bekannt. Ihn fragte ich, ob letztes Jahr schon eine Liste rumging; nein.

Ich versuchte, dem Dozenten meine Lage zu erklären. Leider sei es nur fair, wenn Studierende aller Semester sich dem Anwesenheitsprotokoll beugen müssen. Er echauffierte sich über Studierende, die in der Vergangenheit dauerhaft abwesend gewesen seien, aber dennoch die regelmäßige Teilnahme bescheinigt gekriegt hätten. Ist ein Protokoll aber wirklich eine sinnvolle Lösung für dieses Problem? Ich sehe keinen Mehrwert darin, uns stumpf die Zeit absitzen zu lassen. Auch wurde angeführt, dass Vorlesungen platzbeschränkt sind und es ärgerlich sei, wenn eingetragene Student*innen nicht auftauchen, während andere ausgeschlossen sind. Die denkbar einfachste Lösung dafür wäre es, die Platzbeschränkung abzuschaffen. Eben das wurde in dieser Vorlesung sogar durchgesetzt! Protokoll wird trotzdem geführt.

Eine vergebliche Suche nach Antworten

In meiner dritten Vorlesung brachte eine Nachfrage mit Hinweis, dass es früher noch eine Vertrauensbasis gab, mich auch nicht weiter. Immerhin erfuhr ich, dass diese neue Regelung je nach Studiengang unterschiedlich gehandhabt werde. Seltsam ist: bei selbigem Dozent belegte ich einst ein Seminar, das keine Präsenzliste hatte – obwohl das gerade da immer Standard war. Ich schrieb dem Prüfungsbüro, welches mir mitteilte, dass zu Vorlesungen mit Präsenzpflicht schon immer eine obligatorische Anwesenheitskontrolle gehört hätte und es gar ungewöhnlich sei, wäre diese nicht durchgesetzt worden. Wirklich?

Laut Kommilitonen gebe es in Vorlesungen der Biologie, Politikwissenschaft und Geschichte keine Listen, wobei es in Geschichte Tests und dergleichen gibt, um dennoch zur regelmäßigen Anwesenheit zu motivieren, und die Studierenden der Politikwissenschaft ihre Freiheit vom Kontrollzwang hart erkämpfen mussten. Es kam die Frage auf, ob das Gewohnheitsrecht greifen könnte.

Die fiktionale Studienordnung

Die Dozentin der ersten Vorlesung erklärte mir, dass es eine neue Studienordnung gebe. Darum sind bei ihr nur Erstsemester-Studierende betroffen. Eine neue Ordnung für das Wintersemester 24/25 existiert aber nicht. Und nach wie vor sind in den anderen Vorlesungen – ohne Angabe von Gründen – alle betroffen. Anscheinend wissen die Dozierenden untereinander nicht einmal, was der Plan ist. Sowohl die aktuelle Prüfungsordnung der deutschen Philologie als auch die der Theaterwissenschaft (beide 2022) erklären, dass es keine grundsätzliche Anwesenheitspflicht gibt und geben jeweils einen Anhang aller Module, in welchen notiert ist, ob sie eine Präsenzpflicht haben. Zu beachten ist dabei, dass die Module gänzlich abgebildet sind – nicht einzelne Lehrveranstaltungen – und in der Regel jedes Modul aus einer Vorlesung und einem Seminar besteht. Für meine Recherche sind die Prüfungsordnungen daher nutzlos; trotz mehrfacher Empfehlungen, diese zu konsultieren. Das Vorlesungsverzeichnis hingegen war aufschlussreich, da vergangene Semester archiviert werden und öffentlich einsehbar bleiben. Ich suchte zwei Vorlesungen  heraus: die, bei der ein Dozent die Vertrauensbasis etablierte, und die aus dem Grundmodul, die mein Kommilitone damals absolvierte. Beide Vorlesungen sind präsenzpflichtig. Wirklich so ungewöhnlich, liebes Prüfungsbüro?

Keine Freiheit mehr an der freien Uni

Das eigentliche Problem ist doch ein strukturelles, da die Inhalte der Vorlesungen für das Bestehen der Modulprüfungen oft überflüssig sind. Mal abgesehen davon, dass es Studierende gibt, die in Vorlesungen nach 20 Minuten den Faden verlieren und sich besser im Eigenstudium tun. Auch kann einem das Pech treffen, ein wichtiges Seminar nur zur gleichen Zeit wie eine Vorlesungen antreten zu können. Warum müssen wir an die Hand gehalten werden? Warum darf es nicht unser Problem sein, wie wir gedenken, die Prüfungen zu bestehen? Gehört das nicht zum Studium dazu, sich selbst zu organisieren?

Bei der Protokollierung der Anwesenheit von Gerechtigkeit zu reden, wenn doch genau dadurch Studierende benachteiligt werden, kommt mir vor wie ein schlechter Scherz. Allen Ernstes durfte ich zu hören bekommen, dass wir Studierende in Deutschland im globalen Vergleich noch gut wegkommen. Nun, das mag sogar stimmen. Aber ist das nicht nur ein Grund mehr für uns, aktiv zu werden, um unser Wohl zu erhalten? Ich sehe nicht ein, ohne Weiteres solch einen Einschnitt in meine Rechte als Student zu akzeptieren. Darüber hinaus ist auch die Abwesenheit jeglicher Transparenz uns Studierenden gegenüber mehr als eklatant.

Und bevor wir uns mit der Welt beschäftigen, wie wäre es, wenn wir uns erst einmal in Berlin umsehen? Kleiner Tipp: In der Humboldt-Uni wurde das Protokollieren der Anwesenheit, sei es durch Listen oder sonstige Tricksereien der Dozierenden, erfolgreich abgeschafft. Warum sollen wir uns das gefallen lassen?

Autor*in

Ähnliche Artikel

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert