Was, wenn dem Studium nicht Freiwilligendienst oder Selbstfindungsreise, sondern Obdachlosigkeit oder starker Drogenkonsum vorausgehen? An einer britischen Uni gibt es ein Programm, das den Weg in die akademische Welt begleitet.
Wer beim Smalltalk in der Erstiwoche gut aufpasst, merkt schnell: Der Übergang von der Schule zur Uni verläuft meist fließend. So sind die Gap Years und Freiwilligendienste nach dem Abi nur Stolpersteine auf dem ersten Bildungsweg und die von besorgten Eltern viel gefürchtete Lücke im Lebenslauf ihrer Kinder. Unproblematisch, doch nicht alle fallen weich.
„Vor fünf Jahren war ich süchtig nach Alkohol. Jetzt bin ich süchtig nach Wissen“, sagt Philip Day. Er ist Teilnehmer im Programm From Adversity to University (dt.: Vom Elend zur Universität) an der südenglischen University of Chichester. Das 12-wöchige Brückenmodul ist ein unkonventioneller Weg ins Studium und richtet sich vorwiegend an Menschen, die in ihrer Vergangenheit Obdachlosigkeit erfahren haben. Wer das Programm abschließt, kann sich auf alle Bachelorstudiengänge der Universität in Chichester bewerben, auch ohne Schulabschluss.
Die Dozentin Becky Edwards rief das Projekt 2018 ins Leben. Vor einem anstehenden Familienurlaub mit dem Campervan fiel ihr auf, dass ein Obdachloser ihr Wohnmobil monatelang als Schlafplatz genutzt hatte. Nachdem sie losgefahren war, musste sie oft an die Person denken, deren Habseligkeiten sie zuvor achtlos an den Straßenrand gelegt hatte. So reifte in ihr der Plan, Betroffene zu unterstützen, die zurück in die „Mitte der Gesellschaft“ finden möchten – mit Hilfe eines Uniabschlusses. Als die örtliche Obdachlosenhilfe Stonepillow zufällig kurz darauf eine Kooperationsanfrage an die Universität in Chichester schickte, ergriff Edwards ihre Chance. Sie sprach mit den Bewohnenden der Obdachlosenunterkunft und war überrascht, wie positiv deren Resonanz auf „eine mittelalte weiße Frau, die etwas von akademischen Graden erzählte“, war.
Durch Edwards Initiative erhalten ehemals wohnungslose Menschen nicht nur Zutritt zur akademischen Welt, sondern können sich auch in einem geschützten Raum über ihre geteilten Erfahrungen austauschen. Die Dozentin möchte sicherstellen, dass der Einstieg ins Studium so niedrigschwellig und motivierend wie möglich gelingen kann. Anstatt an einem festen Lehrplan orientiert sich Edwards deshalb inhaltlich am Alltagswissen der Teilnehmenden. Hausarbeitsthemen können zum Beispiel die Ursprünge von Prokrastination oder der Effekt von Schlaf sein. Trotzdem wird der Lehrstoff des Moduls nicht künstlich vereinfacht, sodass Leistungen auf wissenschaftlichem Niveau erbracht werden müssen. Alle Abgaben werden durch unabhängige Lehrende bewertet. Außerdem müssen Absolvierende in allen zwölf wöchentlich stattfindenden Sitzungen anwesend sein, um das Zertifikat für das Brückenmodell zu erhalten. Die Bedingungen stellen laut Day ihn und andere Teilnehmenden vor eine große Herausforderung. Viele von ihnen litten an Selbstzweifeln und Impostor-Syndrom, sagt der ehemals Obdachlose. Sie haben das Gefühl, ihnen fehle ein geheimes Passwort, um Zugang zum Elfenbeinturm Universität zu erhalten.
Das ändert sich, sobald die Absolvent*innen des Moduls ihre Studierendenausweise in der Hand halten. Day nennt die Karte aus Plastik symbolisch seinen Magic Key.
Er hat schwarz auf weiß: Ich habe etwas abgeschlossen. In der Vergangenheit verlorenes Selbstbewusstsein wird so wieder aufgebaut. Was zunächst paradox erscheint – dabei hilft, dass das Programm 200 Pfund pro Person kostet. „Menschen glauben so sehr an die Teilnehmenden, dass sie in sie investieren möchten“, sagt Edwards. Denn das Projekt wird durch Spenden finanziert.
„In diesem Moment wird aus der Hoffnung etwas Konkretes“. Das ebne den Weg für mehr.
Von insgesamt 36 ehemals wohnungslosen Modulteilnehmenden haben bereits zwei den Bachelor geschafft. Eine arbeitet als Lehrerin, die andere hängt ihrem Erststudium in Fine Arts ein weiteres in Rechtswissenschaften an. Auch Day wird noch dieses Jahr seinen Bachelor in Soziologie abschließen. An der kleinen Universität in Chichester, die ungefähr 6000 Studierende zählt, trägt das Projekt also Früchte.
Weil Edwards fest davon überzeugt ist, dass das auch außerhalb ihrer Stadt funktionieren kann, hat sie ein Toolkit entwickelt, was es anderen Universitäten möglich machen soll, ein vergleichbares Projekt umzusetzen. Bislang habe aber noch keine Institution davon Gebrauch gemacht. Die Dozentin erklärt sich das fehlende Interesse dadurch, was im Bildungssystem ohnehin bereits falsch laufe: Universitäten hätten genügend Anwärter*innen und kein Interesse daran, ihre Plätze divers zu füllen. Vor allem dann nicht, wenn damit potenzielle Kosten oder eine Anpassung der Studienordnung einhergehen müssten.
Die Hochschulen würden von ihrem Programm profitieren, finden Day und Edwards. Edwards sagt, ihre Studierenden seien motivierter und wissbegieriger als die konventionellen und brächten so frischen Wind in den Lehralltag. Ihre Leistungen seien überdurchschnittlich. Durch die Vorbereitung bei From Adversity to University und ihre Lebenserfahrung seien die Inhalte und Strukturen der Uni zudem kein Neuland für die Absolvierenden. Sie seien selbstständiger und erleichterten so auch den Lehrkräften die Arbeit.
Day findet, der transformative Charakter des Moduls dürfe nicht unterschätzt werden. Er sagt stolz, sein Sohn sehe in ihm jetzt ein Vorbild und möchte nun selbst studieren. Er ist fest davon überzeugt, dass Universitäten nachhaltig einen Beitrag zur Chancengleichheit leisten können. Edwards entgegnet ihm: „Ich bewundere deinen Optimismus. Wenn Bildungsträger nicht Teil der Lösung sind, sind sie Teil des Problems“. Seit dem Start von FromAdversity to University hat Edwards vor allem zwei Dinge verinnerlicht: Erstens, dass Intelligenz und Bildung keine Synonyme darstellen. Denn während das Denkvermögen unter den Menschen gleich verteilt sei, wäre das bei den Chancen nicht der Fall. Zweitens: Um Stereotype hinter sich zu lassen und alte Strukturen zu durchbrechen, braucht es weitaus mehr als ein Zusammenspiel glücklicher Zufälle. Dafür erhofft sie sich für die Zukunft eine „Koalition der Entschlossenen“.