Kann man mit Philosophie die Welt retten? Hartmut Rosa sprach dazu im Rahmen des Weltphilosophie-Tags am 20.11.2024 über sein Konzept der Sozialen Energie. Linda Wagner berichtet.
Mit dem ersten Schnee des Jahres war an diesem Abend zwar endgültig der Winter über Paris hereingebrochen, doch im Innern des sternförmigen UNESCO-Hauptsitzes spürt man davon kaum etwas. Der brutalistische Vortragssaal liegt im schwachen, blauen Licht; die Bühne wirkt fast inszeniert mit Zierpalmen und goldenen Retro-Studiolampen, vor denen drei überdimensionierte Stühle thronen. Der Versuch, mit sanfter Jazzmusik ein entspanntes Ambiente zu erzeugen, lässt den Raum eher wie eine Hotel-Lobby anmuten. Eine gemütliche Atmosphäre, die kaum auf die brennenden Fragen des Abends vorbereitet.
Nach den Eröffnungsreden von Gabriela Ramos, stellvertretende Generaldirektorin für Sozial- und Geisteswissenschaften, und der rumänischen Botschafterin Simona-Mirela Miculescu wird deutlich: Die sanfte Kulisse täuscht, denn die Themen des Abends haben Gewicht. Die wichtigste Frage: Wie können wir soziale Spaltungen überwinden?
Bei der Beantwortung soll der Soziologe Hartmut Rosa mit seinem Konzept der Sozialen Energie helfen. Ganz im Stil eines hauptberuflichen Denkers beginnt er mit einer nicht minder elementaren Rückfrage: „Wieso existieren wir?“. Beantworten tut er sie nicht, stattdessen wird die Hotel-Lobby zum Vorlesungssaal, denn Rosa zeigt überladene PowerPoint-Folien. In schriller gelber Schrift (Arial) erscheint der Begriff Metaphysik. Dennoch gibt der Professor schnell Entwarnung an das Publikum. Er wage den kurzen Exkurs ins fachfremde Gebiet lediglich, um sich hier der physischen Definition der Energie zu bedienen. Seine These lautet: Wenn Energie das Potenzial ist, Dinge zu tun, dann ist Soziale Energie das Potenzial, Soziales zu tun. So weit, so simpel.
Eine Bestandsaufnahme
Laut Rosa steht die Menschheit vor einer zweifachen Energiekrise. Zum einen erschöpfen wir die natürlichen Ressourcen, zum anderen erleben wir eine kollektive Erschöpfung – eine Art globalen Burnout. „Wir verbrennen uns und unseren Planeten“, fasst Rosa pointiert zusammen.
Die moderne Gesellschaft, so Rosa, könne man mit einer Katze, die eine Maus jagt, vergleichen: Energie wird investiert, um Energie zu gewinnen. Doch im Gegensatz zur Natur leben wir in einem System, in dem der Ertrag oft kaum den Aufwand deckt. Materielles Wachstum und technische Innovationen sorgen lediglich dafür, dass wir den Status quo aufrechterhalten. Wie ein Hamster im Rad rennen wir unermüdlich, ohne wirklich voranzukommen. Die Folge? Eine Welt, in der 40 Prozent der Jugendlichen in Asien und Europa bereits Symptome von Depression zeigen – ein Indikator dafür, wie sehr uns das Streben nach endlosem Wachstum zermürbt.
Die Lösung bleibt vage
Nach seiner ausschweifenden Bestandsaufnahme wird dem ungern aber häufig als “Entschleunigungspapst” betitelten Sprecher bewusst, dass ihm die Zeit davonläuft. Mit einem Seitenblick auf die Uhr, unterbricht er seinen Gedankenfluss: „Ich habe nur noch vier Minuten, das macht mich wahnsinnig.“ Eine ironische Parallele, wenn man bedenkt, dass er selbst die Zeitknappheit als Kernproblem der modernen Welt beschreibt.
Hektisch springt Rosa durch die Folien seiner Präsentation und landet schließlich bei einem entscheidenden Punkt: Im außereuropäischen Raum, so erklärt er, werde Energie häufig als Resultat zwischenmenschlicher Interaktionen verstanden, nicht als eine isolierte Ressource. Soziale Energie sei kein Eigentum, das man horten könne, sondern entstehe erst im Miteinander – als Durchfluss, oder wie er es nennt, als „throughput“.
Doch gerade bevor er seine Idee weiter konkretisieren kann, ertönt lautstark der Wecker auf seinem Rednerpult. Die Zeit ist um. Leider ist weder klar geworden, wieso wir existieren, was die Soziale Energie damit zu tun hat oder wie wir sie für uns nutzen können.
Philosophische Impulse, obwohl die Zeit drängt?
Niemand in dem blauen Saal hat von dem Konzept der Sozialen Energie einen weltrettenden Masterplan erwartet. Doch an diesem Abend fehlte der Abschluss, der zumindest die Relevanz des Denkanstoßes vollständig greifbar gemacht hätte. Blendet man Zierpflanzen und Fahrstuhlmusik aus und zieht nach dem einstündigen Vortrag Bilanz, gelangt man zu einem ernüchternden Ringschluss: Hartmut Rosa hat mit dem Konzept der Sozialen Energie im Grunde einen interessant klingenden Namen dafür gefunden, was mit der Ausgangsproblematik bereits klar wurde. Es erinnert uns daran, dass die Grundlage für gesellschaftliche Erneuerung nicht nur in der Optimierung von Ressourcen oder Technologien liegt, sondern in der Stärkung zwischenmenschlicher Verbindungen.
Vielleicht liegt der Wert des Konzepts aber weniger in seiner theoretischen Tiefe als in seiner Wirkung nach außen: Es bleibt die Hoffnung, dass die Verpackung als neues, theoretisches Konzept bei dem ein oder anderen CEO die Bereitschaft fördert, solche Ansätze in Unternehmen oder Organisationen stärker zu implementieren. Das zeigte sich auch in der abschließenden Frage der rumänischen Botschafterin, warum Menschen wie Rosa nicht häufiger in Konzerne eingebunden werden, um den dringend nötigen Wandel mitzugestalten. Rosa selbst entgegnete selbstkritisch: „Weil wir, anstatt an einer gemeinsamen Lösung zu arbeiten, uns nur streiten würden.“. Wenn man einen konkreten Schluss aus seinem Vortrag ziehen kann, dann ist es, dass für endlose Debatten keine Zeit mehr bleibt.