Serbische Studierende und der Kampf um Gerechtigkeit

Die jahrelange Unzufriedenheit der serbischen Bürger*innen erreicht durch einen tragischen Vorfall in Novi Sad ihren Höhepunkt. Was passiert gerade in Serbien? Warum haben Belgrader Unis seit Wochen geschlossen? Und warum wird keine Verantwortung für die mehreren Toten in Novi Sad übernommen? Ein Bericht von Nađa Filipović.

Schild auf der großen Demo am 22.12.2024 in Belgrad mit der Aussage „Belgrad ist wieder die Welt” – eine Erinnerung an die Studentenproteste der 1990er Jahre. Foto: Anonym – @kestrra.

Am 1. November 2024 stürzte das Dach im Außenbereich des Bahnhofs in Novi Sad ein und nahm 15 Menschen das Leben. Mehrere wurden verletzt. Der Bahnhof war zuvor renoviert worden, 2022 eröffnete die Zugverbindung zwischen Novi Sad und der Hauptstadt Belgrad. Am Tag der Tragödie meldete sich der Präsident Serbiens, Aleksandar Vučić, um sein Beileid für die Familien der Toten auszudrücken und zu versichern, dass die Verantwortlichen bestraft werden. Was die Folgen dieses Tages waren, und was die Worte des Präsidenten wirklich bewirkt haben, zeigte sich in den darauffolgenden Wochen.

„Blockade“ der Universitäten in der Hauptstadt

Die Student*innen der Belgrader Universitäten haben seit dem Einsturz wochenlang protestiert und ihre Institutionen somit „blockiert”. Zusammen mit anderen Bürger*innen fordern sie den Staat auf, Verantwortung zu übernehmen und aufzuklären, wie es überhaupt zu dem Fall kam. In einem öffentlichen Brief wurden verschiedene konkrete Anforderungen an die Regierung bezüglich des Falls verfasst. 

Die Renovierungsmaßnahmen seien laut unabhängigen serbischen Medien von chinesischen und serbischen Baufirmen durchgeführt worden, und nach Angaben der serbischen Eisenbahngesellschaft wurde das Dach nicht repariert oder neu gebaut. Nach vielen Protesten gab es Festnahmen und Anklagen, darunter ein Kunststudent namens Relja Stojanović, der seine Freundin vor der Polizei schützen wollte. Nachdem sich viel Aufmerksamkeit für seinen Fall auf Social Media gesammelt hatte, wurde Relja freigesprochen. Mehrere bleiben nach wie vor in Haft.

Große Demonstration am 22.12.2024 in Belgrad. Foto: Anonym – @kestrra.

Es ist bekannt, dass Protestierende in Serbien nicht friedlich behandelt werden. Nach den letzten Wahlen im Dezember 2023 kam es zu Aufständen in Belgrad, dem Präsidenten und seiner Partei „Srpska Napredna Stranka”, kurz SNS, was für „serbische Fortschrittspartei” steht, wurde Wahlbetrug vorgeworfen. Die Protestierenden wurden mit Tränengas gescheucht und es wurde gewalttätig gegen sie vorgegangen. Eine ähnliche Situation gab es auch schon 2020, nachdem die Wahlen aufgrund der Pandemie früher durchgeführt worden sind und sich herausstellte, dass die Bürger davor nicht gut genug informiert waren. Zahlreiche Videos von den darauffolgenden Protesten zeigten, wie gewalttätig die Polizei werden kann – mehrere Personen wurden verprügelt.

Am 22. Dezember sammelten sich über 100.000 Menschen im Zentrum Belgrads und demonstrierten. Die serbischen Nachrichten meldeten Zahlen zwischen 20.000 und 30.000. Die Demonstrierenden schwiegen 15 Minuten für die 15 Opfer in Novi Sad. Es waren viele Schilder mit Aussagen wie „Wir wollen Gerechtigkeit, keine Ferien!”, die sich auf die Entscheidung, die Winterferien für Schulen früher starten zu lassen, beziehen. Am 31.12.2024 fand eine weitere Demo statt, viele Studierende haben sich gegen eine Silvesterfeier entschieden. Im Laufe der Demonstrationen haben sich verschiedene Gruppen und Institutionen den Studierenden angeschlossen: Lehrkräfte, Professor*innen, Wissenschaftler*innen, Landwirt*innen, Schauspieler*innen, Künstler*innen, Mitarbeitende der serbischen Post, die Liste geht weiter. 

Demo am 22.12.2024 – Poster mit Aussagen wie „Korruption tötet, eure Hände sind blutig!“ und „Du lügst wie ein Hund!“. Fotos: Anonym – @kestrra.

Als außenstehende Person mag man vielleicht erstaunt sein, warum diese Tragödie eine so große Reaktion ausgelöst hat. Hinter der Unzufriedenheit des serbischen Volkes versteckt sich viel mehr – Korruption, hohe Kriminalitätsraten, Wahlbetrug, Bestechung und vieles mehr. 

Wer ist Aleksandar Vučić?

Er regiert seit 2012 mit seiner Partei SNS: zuerst als Premierminister und seit 2017 als Präsident. Er verspricht seit Jahren einen Eintritt Serbiens in die Europäische Union. Auf der anderen Seite ist er enger Verbündeter von Vladimir Putin und hat seit Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine keine Sanktionsmaßnahmen gegen Russland eingeleitet. In serbischen Nachrichten wird Putin beinahe gelobt, und der Umgang der EU mit Russland wird kritisiert. 

Bevor er seine eigene Partei gegründet hat, steuerte Vučić das Staatsinformationsministerium, als Mitglied der rechtsextremen Partei „Srpska Radikalna Stranka” die für „Serbische Radikale Partei” steht. Er unterstützte den nationalistischen Ex-Präsidenten Slobodan Milošević, der wegen Kriegsverbrechen während der Jugoslawienkriege im Jahr 1999 verurteilt wurde. In Serbien gibt es seit dem Zerfall Jugoslawiens und mit der Regierung von Vučić eine gewisse Grauzone zwischen Staat und Mafia. Es gibt zahlreiche Fälle, wo gezeigt wurde, dass Korruption sich in legislative Angelegenheiten eingeschlichen hat. In den wenigen Medien, zum Beispiel „N1”, die nicht durch Vučić kontrolliert werden, werden mögliche Verknüpfungen zwischen dem Präsidenten und Kriminellen offenbart. Fernsehprogramme, sowie Zeitungen, sind dennoch mit pro-Vučić Propaganda überfüllt, sodass ein wahrhafter und objektiver Überblick über die Geschehnisse in Serbien und der Welt schwierig zu erhalten sind. 

„In Russland wird das Internet ausgeschaltet. So wollen sie Putin auf die Knie werfen!” Zitat der Boulevardzeitung „Srpski Telegraf”, 23.12.2022 in Belgrad. Foto: Nađa Filipović.

Was bedeutet das alles für die Zukunft?

Die Studierenden-Demos erinnern viele an die der 1990er Jahre, die zum Rücktritt des damaligen Präsidenten Slobodan Milošević führten. Einige Zeit danach regierte der demokratische Präsident Zoran Đinđić, bis er im Jahr 2003 ermordet wurde. Die Tat wurde immer noch nicht vollständig aufgeklärt und viele Tatverdächtigen konnten freilaufen. Für viele war er eine Hoffnung auf ein besseres Serbien.

Durch Vučić wurde in Serbien eine Autokratie geschaffen. Er kontrolliert fast alle Medien und es gibt wenig Fortschritte in den Lebensverhältnissen der Serben. Vor den Wahlen versucht er mit Geldgaben bis hin zu kostenlosem Essen wie Sandwiches, um Stimmen von den ärmsten Schichten Serbiens zu gewinnen. Die EU blickt nach Serbien, um die Konflikte mit Kosovo endlich aufzuklären, aber viele Serben fühlen sich von der EU ignoriert, wenn es um die Gerechtigkeit und Demokratie in ihrem Heimatland geht. 

„Wir wollen kein Sandwich, wir wollen Würde“ – ein weiteres Schild auf der Demo am 22.12.2024 Foto: Anonym – @kestrra.

Viele Menschen haben die Hoffnung verloren, aber die Stimmen der Studierenden zeigen, dass ein Aufstand möglich ist. Die Unzufriedenheit wächst, doch wenige trauen sich, dies öffentlich zu zeigen. Der Blick der Bevölkerung richtet sich auf die jungen Generationen, um langfristige Veränderung zu schaffen.

„Mit Wohnungen könnt ihr nicht eure blutigen Hände sauber machen!” – Demo am 22.12.2024. Mit diesem Spruch wird die Aussage des Präsidenten, die Miete für Studierende senken zu wollen, kritisiert. Viele sehen dies als Bestechungsversuch. Foto: Anonym – @kestrra.

Quellen

  1. https://www.dw.com/de/serbien-gef%C3%A4ngnis-protest-verantwortung-15-tote-einsturz-bahnhofsdach-novi-sad-vovodina/a-70861746 
  2. https://balkaninsight.com/2024/12/23/mass-rally-blocks-serbias-capital-demanding-accountability-for-station-disaster/ 
  3. https://www.osce.org/odihr/elections/serbia/455173 
  4. https://www.deutschlandfunk.de/vergiftete-verhaeltnisse-in-serbien-100.html
  5. https://www.theguardian.com/world/2023/dec/24/thousands-protest-belgrade-demand-annulment-elections-serbia 
  6. https://www.dw.com/de/serbien-gef%C3%A4ngnis-protest-verantwortung-15-tote-einsturz-bahnhofsdach-novi-sad-vovodina/a-70861746

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