Bildungsungerechtigkeit macht auch vor der Uni keinen Halt. Wie Arbeiterkind.de mehr Chancengleichheit schaffen will, erklärt Abdullah Erdogan im Interview mit Leo Wendt.
Sie haben den Kampf gegen die Statistik gewonnen: Erstakademiker*innen. Denn während 79 Prozent der Akademiker*innenkinder ein Studium aufnehmen, sind es unter den Arbeiter*innenkindern lediglich 21 Prozent. Doch der Studienbeginn ist häufig nicht das Ende der Bildungsungerechtigkeit, sondern nur die erste Hürde auf einem Weg voller struktureller Stolpersteine. Abdullah „Apo“ Erdogan engagiert sich seit eineinhalb Jahren bei ArbeiterKind.de. Er kennt die Herausforderungen, mit denen Erstakademiker*innen konfrontiert sind. Aber im Einsatz für eine gerechtere Gesellschaft hat er auch gelernt, dass man selbst die größten Hürden gemeinsam überwinden kann.
Wie würdest du Menschen, die vielleicht noch nie von ArbeiterKind.de gehört haben, ganz grundsätzlich erklären, was ihr macht?
ArbeiterKind.de versucht Menschen zu unterstützen, die aus bildungsfernen Schichten kommen, primär aus Nichtakademiker*innenfamilien. Menschen, für die es häufig nicht nur finanziell schwierig ist, ein Studium zu beginnen, sondern denen auch bestimmtes Wissen fehlt, um ein Studium angehen zu können oder überhaupt darüber nachzudenken.
In welchen konkreten Situationen helft ihr eurer Zielgruppe?
Wir versuchen, diese Menschen in drei möglichen Momenten aufzufangen und ihnen Angebote zu machen: Zum einen bevor oder während sie darüber nachdenken, zu studieren. Uns ist es wichtig, diesen Menschen schon auf der Oberschule den Hinweis zu geben, dass ein Studium möglich und machbar ist. Dahingehend wollen wir sie auch motivieren. Dann gibt es Menschen, die mitten im Studium sind oder am Anfang des Studiums stehen und viele Fragen haben oder Hilfe brauchen. Eine dritte Gruppe, die wir ansprechen wollen, sind Menschen, die kurz vor dem Berufseinstieg stehen. Da schauen wir, ob es bei uns Ehrenamtler*innen gibt, die aus der jeweiligen Branche kommen und beim Berufseinstieg begleiten können.
Was sind besondere Herausforderungen, mit denen Erstakademiker*innen konfrontiert sind?
Vor allem wenn wir an Schulen gehen, stellen wir bei Schüler*innen, die zu unseren Veranstaltungen kommen, immer wieder fest, dass häufig ganz grundsätzliche Informationen fehlen. Manche kennen beispielsweise BAföG nicht oder wissen nicht, was ein NC ist. Viele können nicht einschätzen, was ein Studium kostet, und liegen in ihren Einschätzungen darin meist weit unter den realen Kosten eines Studiums. Da sind dann natürlich Probleme vorprogrammiert. Deshalb schaffen wir Aufklärung bei ganz existenziellen Fragen, zum Beispiel zur Studienplatzsuche oder zur Studienfinanzierung. Weitere Punkte, bei denen wir Unterstützung anbieten, sind Stipendien, Erasmus oder das Erlangen unterschiedlicher Kompetenzen, beispielsweise wie man eine gute Präsentation hält.
Wer kann bei euch mitmachen?
Bei uns kann jede*r mitmachen. Wir haben keine bestimmten Kriterien und keine Altersbeschränkung. Überwiegend engagieren sich aber Menschen, die selbst studieren oder studiert haben. Viele von uns sind Anfang 20 bis Ende 30, aber wir haben auch viele ältere Ehrenamtler*innen.
Gibt es auch Menschen aus Akademiker*innenfamilien, die sich bei euch engagieren?
Ich kenne einige Engagierte, bei denen ein Elternteil studiert hat. Ansonsten sind es viele, die aus Nichtakademiker*innenfamilien kommen und selbst betroffen sind oder waren.
Wie erreicht ihr Menschen und macht sie auf euer Netzwerk aufmerksam?
Das kann man unter drei Maßnahmen zusammenfassen: Zum einen beteiligen wir uns an Veranstaltungen von anderen Trägern. Daran nehmen wir meist als eine von vielen dort vertretenen gemeinnützigen Organisationen teil, zum Beispiel an Messen. Zusätzlich haben wir eigene Veranstaltungen. Wir schaffen Weiterbildungsmöglichkeiten für unsere Mentor*innen, aber auch Angebote, mit denen wir gezielt Betroffene ansprechen, die Unterstützung brauchen. Inhaltlich geht es bei solchen Veranstaltungen beispielsweise darum, wie man sich fit macht für die Bewerbungsphase oder wie man mit Absagen umgeht. Außerdem haben wir auch offene Treffen oder Sprechstunden. Ein dritter Weg ist, dass wir direkt an Schulen gehen.
Wie unterstützt ArbeiterKind.de Erstakademiker*innen insbesondere am Studienanfang?
Am Studienanfang ist es vor allem wichtig, Begleitung und Feedback zu geben. Die meisten Engagierten bei ArbeiterKind.de haben denselben sozialen Hintergrund. Wenn man nur widerspiegelt, wie es einem selbst am Studienanfang ging, bauen sich oft schon Parallelitäten auf. Gemeinsam mit der Person, die gerade den Einstieg ins Studium beginnt, findet man dann Situationen, in denen man konkrete Tipps geben kann. Je mehr Austausch man bietet und auch in das Netzwerk von ArbeiterKind.de weiterleitet, umso größer sind die Chancen für die Studierenden, erfolgreich ihre nächsten Schritte zu gehen.
Du bist jetzt schon eine Weile dabei. Erinnerst du dich an eine konkrete Situation, in der du besonders von ArbeiterKind.de profitiert hast?
Das letzte Mal, bei dem mir ArbeiterKind.de besonders helfen konnte, war, als ich als Journalist selbstständig wurde. Während ich gerade dabei war, für LinkedIn eine Akquisestrategie zu schreiben, ploppte im Netzwerk von ArbeiterKind.de plötzlich die Online-Veranstaltung „Durchstarten in LinkedIn” auf. Das war ein tolles Angebot, was für meine Situation perfekt passte. Von diesem und weiteren Angeboten, die ArbeiterKind.de schafft, profitiere ich sehr. Vor allem, weil sie sich quartalsweise wiederholen und so jede*r einmal die Möglichkeit hat, teilzunehmen. Wovon ich noch profitiere, ist das Netzwerk, das für mich aktuell bei der Suche nach einem Promotionsplatz sehr hilfreich ist.
Wie bist du zu ArbeiterKind.de gekommen?
Ich habe an der Justus-Liebig-Universität in Gießen studiert, wo ArbeiterKind.de gegründet wurde. Ich dachte damals, für mich wäre der Zug schon abgefahren. Das stimmte aber nicht – Es ist nie zu spät! Auch gegen Ende des Studiums kann man definitiv noch von ArbeiterKind.de profitieren. Ein paar Jahre später habe ich ArbeiterKind.de dann zufällig online wiedergesehen. Weil ich mich nach dem Studium sowieso wieder ehrenamtlich engagieren wollte, passte das perfekt.
Woran liegt es, dass es immer noch viele Erstakademiker*innen gibt, die sich nicht trauen, bei ArbeiterKind.de oder an anderen Stellen nach Hilfe zu fragen?
Zum einen macht ArbeiterKind.de viel, um sichtbar zu sein. In der Öffentlichkeit erhält ArbeiterKind.de auch viel Wertschätzung. Nichtsdestotrotz haben gemeinnützige Organisationen auf Social Media schlechte Karten, Aufmerksamkeit zu erzeugen. Denn sie haben nicht wie andere die Ressourcen und Kapazitäten, Werbung für sich zu machen – auch rein finanziell. Zudem ist die Konkurrenz dort sehr groß und man muss immer daran arbeiten, noch präsenter zu sein.
Aus meiner Erfahrung als Mentor kann ich noch berichten, dass es da außerdem eine Art Teufelskreis gibt: Weil es unsere Zielgruppe gerade am Studienanfang oft schwer hat, wollen wir unterstützen und den Studieneinstieg erleichtern. Weil der Studieneinstieg aber eben oft nicht leicht ist, haben die Personen häufig auch nicht die Zeit, sich Hilfe zu suchen. Auch wenn man den Kontakt zu uns über die Ortsgruppen sehr schnell herstellen kann, muss man trotzdem erstmal die Zeit und die Ruhe dafür haben.
Mit welchen strukturellen Problemen haben Erstakademiker*innen zu kämpfen? Was müsste sich an unserem Bildungssystem verändern?
Universitäten sind einige der wenigen Orte, an denen wirklich Gleichheit möglich ist. Man hat dort weniger Hürden als an anderen Orten der Gesellschaft und es gibt dort viel Solidarität. Was mir widergespiegelt wird, ist, dass sich das Phänomen der „Massenuniversitäten“ immer weiter ausbreitet und auch die Unis in Kleinstädten immer anonymer werden. So findet man schwerer Gleichgesinnte, weil man dafür erstmal in einen persönlichen Austausch gehen muss. Institutionen wie das Studierendenwerk oder der AStA leisten viel Arbeit, kommen aber auch an ihre Grenzen. Da müsste es einfach mehr Ressourcen und Kapazitäten geben. Die Strukturen müssten zudem viel ausdifferenzierter sein: Man müsste unterschiedliche Zugänge schaffen, um präziser auf die Bedürfnisse der einzelnen Personen eingehen zu können.
Was sind die Stärken von Erstakademiker*innen?
Eine Stärke ist vor allem das, was man oft als „soft skills“ beschreibt, was aber im Berufsleben zu einer großen Qualität werden kann: die soziale Kommunikation. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass junge Menschen aus dem Arbeiter*innenmilieu mit weniger Blockaden im Kopf soziale Kontakte knüpfen können – und zwar überall.
Wie kann die Gesellschaft insgesamt von Erstakademiker*innen profitieren?
Wovon die Gesellschaft vor allem profitieren kann, ist die Realität, dass man enorm viel Unterstützung braucht, um gesellschaftliche Ungleichheiten zu kompensieren. Davon müssen Menschen erzählen, um gegen die Thesen zu argumentieren, es wäre doch schon alles gleich und wenn man nur wolle, schaffe man auch alles. Zum anderen gibt es leider auch Geschichten vom Scheitern. Diese Geschichten müssen ebenfalls erzählt werden, damit der Gesellschaft klar wird, welche Stolpersteine das System eingebaut hat und dass es nicht für jede*n einfach ist.
Was wäre eine Sache, die du eine*r Erstakademiker*in zu Studienbeginn mitgeben würdest?Wirklich wichtig ist der Blick nach hinten. Ich möchte jede*r Erstakademiker*in den Rat geben, zurückzuschauen und das Geschaffte einmal zu betrachten. Man muss sich klar machen, dass man das auch in die Zukunft tragen kann. Der zweite Punkt ist, dass man Anliegen einfach offen ansprechen sollte – bei uns als ArbeiterKind.de oder auch irgendwo anders. Je öfter man das macht, desto positiver und einfacher wird es sein, sich bei Fragen an jemanden zu wenden. Man findet Unterstützung und Solidarität!