„Der andere Impressionismus“ ist eine faszinierende Ausstellung des Berliner Kupferstichkabinetts, die wenig bekannte Werke und Techniken des Impressionismus präsentiert. Giuseppe Contrafatto führt durch die verschiedenen Sektionen.
Die Entstehung des Impressionismus im späten 19. Jahrhundert ist eng mit den damals hochmodernen Erfindungen verbunden: Die Einbeziehung der Fotografie, die Thesen zur Farbtheorie von Michel Eugène Chevreul, die Erfindung tragbarer Farbtuben, die der sogenannten Malerei „en plein air“ ermöglicht hat. Die Zeit vorgeht und was früher als innovativ galt, ist inzwischen herkömmlich geworden. Dennoch existiert eine Facette dieser Kunstwelle, die auch im 21. Jahrhundert jugendlich und experimentell wirkt.
Regen, Nacht, Sterne, Bäume, Pastolarszenen, Architekturdarstellung, Wälder, die Betrachtung der Bewegung durch Wellen inspiriert von dem japanischen Still Ukiyo-e, dessen berühmtestes Werk Die große Welle vor Kanagawa (Kanagawa oki nami ura, 1830/32) von Katsushika Hokusai war: Dies sind die Themen der Ausstellung „Der andere Impressionismus“ präsentiert von dem Berliner Kupferstichkabinett.
Die Exposition besteht aus verschiedenen Sektionen, um eine „andere“ Perspektive zu erschaffen, habe ich sie bewusst rückwärts erkundet. Eine Reise von den kühnsten Experimenten bis zu den Ursprüngen des Impressionismus – mit dem Ziel, dessen Wesen zu verstehen. In dem Artikel werden die für mich interessantesten Teile präsentiert.
Neue Horizonte des Impressionismus: die Reise in die USA und nach England
Der 4.Teil veranschaulicht die Malerradierung in England und den USA. Laut der aushängenden Beschreibung verdrängt James Abbott McNeill Whistler mit seiner Darstellung von Licht und Luft jedes Wissen um die Form. Diese impressionistischen Werke liefern faszinierende Studien der großen Metropolen in den USA. Ein Beispiel dafür ist New York. Courtland Street-Fähre (Aquatinta und Kaltnadel, 1857–1926) von Joseph Pennell.
Die Experimente des Post-Impressionismus
„Peintres-Lithographies“ ist der Titel des dritten Teils, der den Post-Impressionismus beleuchtet. Studien zufolge ermutigte der Pariser Verleger Cadart seine Künstler*innen mit der Lithographie zu experementieren, anstatt sich ausschließlich der Radierung zuzuwenden, beispielweise Henri-Edmond Cross‘ Frauen beim Spaziergang (Nocturne aux Cyprès – Farblithographie, 1896/97). Die nebeneinander gestellten Punkte kreieren eine faszinierende Szene, während der Künstler es gleichzeitig schafft, das warme Licht der Sonne darzustellen.
Faszination und Bewegung in den Werken von Degas, Manet und Renoir
Eine der schönsten Ecken der Ausstellung zeigt eine Wand mit drei Werken der bedeutendsten französischen Impressionisten. Das erste Werk, Mademoiselle Bécat im Café des Ambassadeurs (Lithographie, 1875), wurde von Edgar Degas geschaffen. Durch das Kratzen auf dem schwarzen Hintergrund vermittelt es eine geheimnisvolle, fast unheimliche Atmosphäre. Das zweite Werk, Der Stuhl (Pinsellithographie, 1875), stammt von Édouard Manet. Es ist minimalistischer, aber überraschend vielschichtig, da ein schwarzer Fleck neue Interpretationen für den Betrachter eröffnet. Das letzte Werk, Der aufgesteckte Hut (Julie Manet, Farblithographie, 1898), von Pierre-Auguste Renoir, verdeutlicht einen Grundpfeiler dieser Stilrichtung: Die Bewegung.
Der Regen im Mittelpunkt
Die zweite Sektion, „Aquaforte“, stellt die Experimente der Société des Aquafortistes dar, die von dem Pariser Verleger Alfred Cadart initiiert wurde. In Anlehnung an Rembrandts Vorbild forderte die Gesellschaft die Künstler dazu auf, die Radierung in neuen, ungewohnten Bereichen auszuprobieren. Die einzigartige Technik der Radierung ermöglichte es, sehr individuelle Ergebnisse zu erzielen, die fast wie Handzeichnungen wirkten. Ein Beispiel hierfür ist Segelschiffe auf ruhiger See (Radierung) von Théo van Rysselberghe. In diesem und anderen Werken der Sektion spielt der Regen eine zentrale Rolle. In van Rysselberghes Bild ist der Regen weit entfernt am Himmel zu sehen, als ob das Gewitter gerade vorbei ist oder noch kommen würde. Im Gegensatz dazu ist der Regen von anderen Impressionisten so lebendig dargestellt, dass man fast sein Geräusch hören kann.
Die Welt durch eine impressionistische Kamera
Mit dem 1.Teil „Sonnengraphiker“ zieht uns unsere Reise in die alternativen Version des Impressionismus. Die Sektion beginnt mit der Fragestellung „Kann man die Sonne mit einem Glas einfangen und sie für einen flüchtigen Moment konservieren?“. Camille Corot, Charles-Francois Daubigny und Théodore Rousseau zogen in den Wald von Fontainebleau um und versuchten die Fragen zu beantworten. Sie schafften „eine Art Photographie, die ohne Kamera entsteht“. In diesem Sinne erstaunlich ist Camille Corots Bäume am Berg (1856).
Wir schließen unseren Besuch nun mit wahrscheinlich dem repräsentativsten Werk der Ausstellung ab, und zwar mit Albert Besnards Über der Asche (Radierung, Kaltnadel und Roulette, 1887). Hier werden Beleuchtungseffekte verwendet, um die Poetik der Emotionen hervorzuheben. Das Subjekt, eine weibliche Figur, blick über eine Szenerie von Asche, die sich aus mehrere Interpretationen offen lässt. Einsamkeit? Unheimlichkeit? Hoffnung? Gewiss verweist die Asche auf das Ende eines Zyklus, sei es im Zusammenhang mit dem Tod oder nach einem Arbeitstag, wenn man den Kamin vor dem Schlafen ausschaltet.
Graustufe, Kratzen, Zeichnungen mit Linien, Unschärfe, mystische Atmosphäre: In dem anderen Impressionismus kommen die umfangreichen Züge der Sinne durch die Anwendung nicht-kanonischer Techniken zur vollen Entfaltung.
Kehren wir schließlich zu dem Ziel meines Rundgangs zurück. Als ich das Gebäude des Kulturforums verlassen habe und mich auf den Weg zur Potsdamer Straße machte, gelangte ich zu der Erkenntnis, dass es nicht notwendig war, die Ausstellung ruckwärts zu erkunden. Auch wenn ich sie nicht rückwärts besucht hätte, hätte ich die Essenz des „anderen” Impressionismus ausfindig gemacht, da sie in seinen ungewöhnlichen Methoden und deren Anwendung verankert ist. Der Impressionismus ist von Natur aus multiperspektivisch.
Die Sammlung der Kuratorin Anna Marie Pfäfflin zeigt besondere Werke, die fast niemand kennt. Außerdem wird illustriert, wie experimentierfreudig die Künstler*innen waren. Sie widmet sich allerdings nicht nur dem Impressionismus, sondern auch dem Post-Impressionismus. Sie macht die schöpferische Herangehensweise des Impressionismus deutlich und sie ist deswegen eine unerlässliche Veranstaltung für Kunstliebhaber*innen und Kunstschaffende.
Wo und Wann?
Der andere Impressionismus
Internationale Druckgraphik von Manet bis Whistler
25.09.2024 bis 12.01.2025
Kupferstichkabinett
Kuratorin: Anna Marie Pfäfflin