Morgenroutinen und die Angst vor dem Tod

Was die beiden miteinander zu tun haben, erklärt Liv Strömquist in ihrer neuen Graphic Novel „Das Orakel spricht”. Eine Rezension von Emma Mehl.

Zum ersten Mal ziert die Autorin selbst das Cover (aber auch zum letzten Mal, wie sie selbst sagt.) Bild: avant verlag.

Was haben eine Heilige, ein Manfluencer und Meghan Markle gemeinsam? Liv Strömquist hat es herausgefunden: Sie geben gerne Ratschläge. Angefangen in der Antike waren es die Priesterinnen des Orakels von Delphi, die nicht nur die einfachen Griech*innen berieten, sondern auch den großen Denkern und Philosophen der Zeit mehr oder weniger hilfreiche Ratschläge erteilten. Von dortaus nimmt Liv Strömquist die Leser*innen in ihrer im November 2024 erschienenen Graphic Novel „Das Orakel spricht” mit auf eine Reise durch die Jahrhunderte, verschiedene Länder und philosophische und soziologische Theorien. Während die ersten Werke der Autorin wie „Der Ursprung der Welt” und „I’m every woman” sich zur Tabuusierung der weiblichen Sexualität und des Körpers noch klar feministisch positionieren und weniger cis-Männer ansprechen, ist ihr neustes Novel unabhängig von der Geschlechtsidentität für alle Leser*innen interessant. Denn der Selbstoptimierungswahn unserer heutigen Gesellschaft, mit dem sie sich hier auseinandersetzt, betrifft uns alle.

Community statt Neoliberalismus

Strömquist rechnet aber vor allem mit einem ab: Social-Media-Phänomenen. Egal ob unsinnig wirkende Beauty-Tutorials oder die (Un)Logik des endlosen Feed-Scrollens, Strömquist bringt in ihren Comics so pointiert die Absurdität unserer Smartphone-Obsession heraus, dass man sich danach fast schämt das Gerät wieder in die Hand zu nehmen. Obwohl man sich als Leser*in ungemein ertappt fühlt, schafft es Strömquist, gleichzeitig nicht belehrend zu klingen. Auch bei ihrer Lesung am 21.11.2024 im Berliner Colloseum gibt sie auf Nachfrage aus dem Publikum lachend zu, dass sie genauso wie alle anderen auf Instagram-Trends hereinfällt und gerne online shoppt. Auch verneint sie die Frage, ob sie irgendwelche Tipps habe, um aus diesem uns allseits umgebenden Selbstoptimierungswahn herauszukommen. Dabei verweist sie auf einen der Kernpunkte aus ihrem Buch: Der Neoliberalismus bringt uns dazu, uns ausschließlich auf unsere eigenen Probleme zu fokussieren und trichtert uns ein, dass diese auch nur individualistisch zu lösen sein. Zudem seien wir allein selbst verantwortlich für unseren eigenen Erfolg, auf den jede*r die gleichen Chancen habe, solange man nur hart genug arbeitet. Durch diese Eigenbrötler-Mentalität werden wir aber davon abgelenkt, uns gesamtgesellschaftlich zu organisieren. Denn wäre es nicht logischer, einer Gewerkschaft beizutreten, um für bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen, anstatt zu versuchen, durch ein Mindfulness-Journal Stress abzubauen?

Nicht nur Feminismus

Wer sich von „Das Orakel spricht” eine weitere rein feministische Graphic Novel, die die universelle Erfahrung des Weiblich-Gelesen-Werdens in unserer Gesellschaft aufarbeitet, erhofft, wird vielleicht enttäuscht sein. In vielerlei Hinsicht versucht Strömquist hier nämlich ein hochkomplexes Thema auf knackigen 250 Seiten aufzuarbeiten, und das auch noch mit witzigen Figuren und knalligen Farben. Die Frage, wie auf Hochglanz polierte Morgenroutinen mit der Angst vor dem Tod und patriarchalisch-sexistisch-klassistischen Strukturen zusammenhängen, ist nicht leicht zu beantworten und ihre Argumentation deswegen auch manchmal schwer nachzuvollziehen. Aber wer es beim Lesen schafft, kurz den Blick von den farbenfrohen Seiten zu lösen, um das Aufgezeigte einzuordnen, den erwartet der ein oder andere Aha-Moment. Gerade jetzt um die Jahreswende werden wir auf allen möglichen Kanälen mit guten Vorsätzen und Tipps, um “erfolgreich” ins neue Jahr zu starten, bombardiert. An dieser Stelle könnte Strömquists Buch den Anstoß geben, statt den Arbeitsstress mit Hilfe eines Life-Coaches abzubauen, sich vielleicht doch im Betriebsrat zu engagieren. 

Liv Strömquist, „Das Orakel spricht”. Übersetzt von Katharina Erben, € 26,50 / 248 Seiten. Avant-Verlag, 2024.

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