Berlin erfasste in den 1990er Jahren ein Gefühl des Aufbruchs. Nach der Wende schien alles möglich. Eine Fotoausstellung im C/O Berlin dokumentiert das Jahrzehnt und erzeugt Nostalgie. Ein Bericht von Kevin Huthmann.
Ich wurde 1992 geboren und bilde mir daher ein, mich an ein Berlin der 90er Jahre zu erinnern. Erinnerungen, welche ich mir zweifellos nur aus Kinderfotos zusammenreime. Und gleichzeitig erzeugen diese vermeintlichen Eindrücke der 90er Jahre in mir eine Nostalgie. Wenn ich versuche, mich an meine frühe Kindheit zu erinnern, dann erinnere ich mich an eine einfachere Zeit, klar. An eine bunte Hauptstadt und an glückliche Menschen. Das Berlin der 90er ist ein Mythos, der in einer Form noch immer weiterlebt und fasziniert. Auch mich. Vielleicht möchte ich meine eigene nostalgische Verklärtheit mit Fakten belegen. Mit diesem Mythos setzt sich die Fotoausstellung Träum Weiter – Berlin, die 90er im C/O Berlin auseinander.
Die Hauptstadt in der Nachwendezeit, zwischen Abriss und Wiederaufbau, zwischen freier Entfaltung und Realpolitik, zwischen Utopie und kapitalistischer Realität. Die Bilder vom Fall der Mauer am 9. November 1989 haben sich in das kollektive Gedächtnis der Deutschen gebrannt. Was in den Jahren darauf folgte, war eine Zeit der Selbstfindung einer ganzen Stadt. Die Teilung ist nicht mehr. Die Besatzungsmächte zogen allmählich ab. Eine Metropole lernte erneut, auf den eigenen Beinen zu stehen, Grenzen auszuloten. Plötzlich war alles erlaubt. Die Wende brachte ein Momentum in die Stadt, das es galt aufrechtzuerhalten. Schon vor der Wende war Berlin – West, wie Ost – ein Schmelztiegel der Subkulturen, der Fall der Mauer wirkte dann wie der Bruch eines Dammes und ließ die ganze Stadt aufgehen, wie einen bunten Strauß Blumen.
Eine Chronologie der 90er Jahre, festgehalten von sieben Fotograf*innen
Inmitten dieser Zeit des Umbruchs gründeten sieben Fotograf*innen der ehemaligen DDR 1990 die Agentur OSTKREUZ und begannen, die Veränderungen in der Stadt fotografisch zu begleiten. Ihre Arbeit wurde ein Zeugnis dieser einzigartigen Zeit. Eine Chronik, durch die die Ausstellung im C/O Berlin führt und, welche am 9. November 1989 ihren Anfang nimmt: Bilder von Familien, die sich lachend und weinend in den Armen liegen. “Wessis“ begrüßen „Ossis“ am Grenzübergang und am Ende sitzen alle zusammen auf der Mauer, die sie Jahrzehntelang trennte. Doch auch dieser historische Abend endete irgendwann und es folgte der nüchterne Morgen danach. Was passierte nun aus dem ehemals Getrennten? Ein Bild, welches den Morgen danach am besten einfängt, ist das, einer Großmutter, welche sich mit der Einkaufstüte in der Hand mit einem Grenzbeamten durch ein eingerissenes Stück Berliner Mauer unterhält. Warum der Grenzer noch Dienst schob?
Zwischen Aufbruch und Umbruch arrangierten sich die Menschen mit dem holprigen Start in eine ungewisse Zukunft im einheitlichen Berlin. Die Bilder dieser Zeit zeigen Nuancen einer vielschichtigen Gesellschaft. Während für spielende Kinder die Welt weiterlief, wie gehabt, erfuhren Ostberliner Angestellte von Werksschließungen. Es lag Ungewissheit in der Luft. War dies der Anfang des viel besprochenen Gefühls vieler Ostdeutscher, bis heute abgehängt zu sein?
Der ehemalige Todesstreifen wurde weggebaggert, als wollte man die Menschen schnell vergessen lassen, dass hier einst auf das eigene Volk geschossen wurde. In den frühen 90ern bolzten Kinder auf der Brachfläche oder ließen ihre Drachen steigen. Wenn man heute in Berlin steht und in irgendeine Richtung guckt, kann man sich gar nicht vorstellen, welche Flächen unbebautem Niemandsland es einst mitten in der Stadt gab.
In Ost-Berlin träumten junge Erwachsene von einem autonomen Leben und besetzen in mehreren Stadtvierteln leerstehende Häuser. Doch der Wiederaufbau der Stadt machte auch vor diesen Träumen nicht halt. Harald Hauswald war als Fotograf dabei, als die Polizei am 14. November 1990 gewaltsam die besetzte Mainzer Straße räumte. Eine Straßenschlacht mit historischem Ausmaß, da sie damals zum Regierungsbruch führte. Ein Spaziergang durch die heutige Mainzer Straße lässt kaum noch auf die belebte Vergangenheit schließen.
Berlin war, ist und bleibt vielseitig
Ute Mahler porträtierte 1993 hingegen eine ganz andere Seite des wiedervereinigten Berlins. Der durch die Wende erzeugte neue Nationalstolz machte auch die wachsende Szene der Neonazis immer mehr sichtbar. Mahler zeigt den Alltag von “Bomber”, einem Neonazi und Familienvater, mal im Wohnzimmer zum Geburtstag seines Sohnes, mal mit den politischen Kumpanen in der Kneipe, in einer Kollage. Daneben nimmt ein großer Röhrenfernseher viel Platz ein. Hier sind die Wände einer wahrlich ungesehenen Szene gewidmet: “Ratten 07” war eine experimentelle Theatergruppe, welche ausschließlich aus Obdachlosen bestand. Mahler begleitete die Gruppe über sechs Jahre, stellenweise ganz intim. Der Erfolg der Theatergruppe spricht für sich: 1994 spielten sie in Paris. Sicher hat Ute Mahler genug Stoff gesammelt, um damit eine eigene Ausstellung zu füllen. An dieser Stelle im C/O Berlin muss leider ein kurzer Einblick in dieses spannende Projekt reichen, welches es wahrscheinlich so nur in Berlin gegeben haben kann.
Am 24. Juni 1995 verhüllte das Künstler*innenehepaar Christo und Jeanne-Claude das Reichstagsgebäude für 13 Tage mit weißem Stoff. Für Berliner*innen Anlass genug Tage lang vor dem, wie ein Geschenk an das Volk, verhüllten Gebäude zu feiern und gemeinsam zu campieren. Auch der Autor dieses Textes war mit seinen 3 Jahren live vor Ort. Generell war Berlin schon immer eine Stadt, in der Menschen jeden Anlass genommen haben, um gemeinsam Party zu machen. Loveparade, freie Liebe und Subkulturen jeder Art. Techno ist der Sound der 90er und trägt über die Schwelle ins neue Jahrtausend. Damit diesem prägenden Aspekt jener Zeit genügend Platz eingeräumt wird, bekleiden Kollagen zu dem Thema “Party like it’s 1999” die Hälfte der Wände im letzten und größten Raum der Ausstellung. Quietschbunt und alle auf ihre eigene Art schob sich der Raver-Look von der Sub- in die Massenkultur. Das ist wohl auch der Look in der Straße, den ich aus meiner Kindheit am ehesten erinnere. Die Schlaghose feierte auf eine neue Art ein kurzes Comeback: gepaart mit klobigen Schuhen, buntem Crop-Top und einer schwarzen Sportbrille hatte man wohl das definierende Outfit der 90s gefunden. Fotos einer Jugend zeigen einen eklektischen Stil, der das Erbe der Loveparade in sich trägt.
Die 1990er leuten einen politischen Wandel für die Stadt ein
Nicht nur kulturell, auch politisch war viel in Bewegung: in Berlin wurde in Rekordzeit gebaut. Mit dem Ende des Jahrtausends veränderte sich das Stadtbild. Besetzte Bauruinen mussten einem neuen Stil weichen: Glas und Beton betonten den Blick in die Zukunft und definierten auch den neuen Potsdamer Platz. Ein gigantisches Bauvorhaben, das in wenigen Jahren vollendet wurde. Noch wenige Jahre zuvor war hier eine Brache. Einen Fußmarsch vom Potsdamer Platz entfernt eröffnete auch das neue Regierungsviertel seine Pforten. Geschwungene Formen beschreiben die Architektur des neuen Bundeskanzleramts, die Fotos der schicken Elite der Ära Gerhard Schröder stehen diametral im Kontrast zu den Bildern der Hausbesetzer in der Neuen Schönhauser, welche in der anderen Ecke des Raums hängen.
Im letzten Ausstellungsraum stoßen die unterschiedlichen Facetten Berlins aufeinanderIn etwa zehn Jahren hat Berlin einen enormen Wandel vollzogen. Die 90er Jahre waren so divers wie eindeutig prägend für die Stadt und ihre Menschen. Und doch bleibt ein Gefühl, als könne man das Berlin der 90er ordentlich in einer Schublade sortieren. Auf der Netzhaut haben sich knallbunte Klamotten eingebrannt und es bleibt das Dröhnen des Techno-Beats im Ohr. Die 90er Jahre in Berlin haben der Stadt eine neue Freiheit gegeben, nachdem die Mauer ihre Einwohner*innen Jahrzehnte lang an ihre Unfreiheit erinnert hatte. Diese Freiheit zog wie ein Magnet die Kultur an sich. 2003 würde Klaus Wowereit den Spruch „Arm aber sexy“ prägen. Zurecht? Träum Weiter. Der Titel der Ausstellung gibt keine abschließende Wertung. Alles nur eine zerplatzte sentimentale Wunschvorstellung oder können wir es uns doch erlauben, ein wenig weiter zu träumen?