Szondi-Tag 2025: Die Macht der Komparatistik

Was versteht man unter „Decolonising the Curriculum“ und welche Bedeutung soll die Komparatistik in unserer Zeit haben, wenn wir als „planetary creatures“ agieren? Ein Erfahrungsbericht von Giuseppe Contrafatto zum Szondi-Tag 2025 versucht, diese Fragen zu beleuchten.

Blinde Lektüre zur Weisheit. Foto: Angel Hernandez (Pixabay)

Der Szondi-Tag am Peter-Szondi-Institut der FU Berlin ist seit Jahren ein Inkubator für literaturwissenschaftliche Debatten. Unter dem Titel „Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft Jetzt: Berlin 2025“ stand die Edition dieses Jahres traditionsgemäß nicht nur für Texte, sondern auch für gesellschaftlich relevante Themen. Besonderer Fokus lag auf zwei Aspekten: Verortungen, nämlich literarische Schöpfung geografischer und kultureller Grenzräume und Pluralität im akademischen Bereich durch einen multikulturellen Umbau globalen Denkens. Ein Workshop und ein Plenum schilderten genau diese Thematiken und versuchten, die Wissenshorizonte der Teilnehmer*innen zu erweitern – sowohl durch die Linse literarischer Raumabgrenzungen, als auch durch das Konzept der Dekolonisierung der akademischen Lehre.

Akademische Bildungsstrukturen dekolonialisieren

Das Plenum „Decolonising the Curriculum“ wurde von Andreas Schmid und Nina Meyer moderiert. Aufbauend auf Keeles ebenso benannten Manifesto wurden zentrale Fragen zur Befreiung der akademischen Strukturen von kolonialen Prägungen diskutiert. Die Debatte hob mehrere Perspektiven hervor, wie Dekolonisierung verstanden werden kann: Zunächst als Hochskalierung – als Erweiterung des europäischen Kanons zugunsten eines globaleren Verständnisses. Zweitens als Diversifizierung – als intersektionale Herangehensweise, die auch Aspekte wie Race, Gender und Behinderung berücksichtigt. Drittens als Kontextualisierung – als Verortung etablierter Texte und Autor*innen im kolonial- und globalhistorischen Kontext. Viertens als Sensibilisierung – als Gestaltung von Seminaren unter Berücksichtigung unterschiedlicher Perspektiven. Und schließlich als Demokratisierung – als Förderung eines kollaborativen und diskursiven Lernprozesses.

Das gesamte Konzept der Dekolonisierung erinnert an Gayatri Chakravorty Spivaks Death of a Discipline, in welchem sie über die Notwendigkeit schreibt, eine „neue Vergleichende Literaturwissenschaft“ zu erschaffen. „Comparative literature must always cross borders“, betont Spivak und wir sollten uns als „planetary creatures“ verstehen – also als Wesen, die in einem global vernetzten System eingebettet sind und über lokale sowie internationale Grenzen hinaus agieren.

Ost: Existierst du wirklich?

Einen weiteren zentralen Punkt beleuchtete der Workshop „Grenzräume und literarische Konstruktionen: Der Osten im Wandel“. Hier wurde die Rolle des Ostens, insbesondere der Länder an den Grenzen der ehemaligen Sowjetunion erörtert. Die Gastrednerin Marina Sivak leitete eine Diskussion, in der exemplarisch die Werke Asien gründlich verändert von Egon E. Kisch und Annemarie Schwarzenbachs Orientreisen analysiert wurden. Im Mittelpunkt beider Texte standen die Verortung und die literarische Darstellung eines Reiseberichts. Die Fragestellung zum Einfluss historischer Umstände auf literarische Narrative ließ einen bleibenden Eindruck bei den Teilnehmenden. Es wurde vor allem hinterfragt, wie politische und geografische Umbrüche die literarische Darstellung von Regionen prägen und wie Machtverhältnisse die Konstruktion dessen, was als „Osten“ bezeichnet wird – letztlich ein verallgemeinerter Begriff – in der Literatur beeinflussen.

Die Teilnehmer*innen wurden gebeten, in kleinen Gruppen kürzere Abschnitte aus der Lektüre zu analysieren, um deren Thematik später während der großen Runde beleuchten zu können:

„‘Der Transport …‘, antworten die Befragten. Solange die neue Bahn in die Grenzlande nicht ein zweites Geleise bekommt, ist die Vereinigung Asiens mit Europa nicht vollendet. Man muß die Bahnen über Stalinabad hinaus bis an die afghanische Grenze führen; eine Strecke von Termes nach Kiirgan-Tjube, eine Strecke von Stalinabad nach Sarai-Kamar –, kein Bezirk darf weiterhin ohne Verbindung mit der Welt bleiben“ (Egon E. Kisch, Asien gründlich verändert, Globus-Verlag Wien, 1946, S. 111-112).

Transport und freie Bewegung sind eng mit dem Wunsch nach Unabhängigkeit verbunden, und Kolonialmächte waren dagegen, weil sie befürchteten, ihre Macht zu verlieren. „England wollte seinen indischen Sklaven nicht die Möglichkeit geben, sich einfach in den Zug zu setzen und davonzufahren“, so Kirsch. Der Text unterstreicht zudem, wie tiefgreifend politische Konflikte und koloniale Machtstrukturen in literarischen Werken reflektiert werden. Daher stellten wir uns am Ende des Workshops alle die Frage: Ist der Osten bloß ein abstraktes Konzept? Ist es überhaupt möglich, sich zu vereinen, ohne die Macht der Politik zu besiegen? Wie kann ein Schriftsteller, der einen Reisebericht verfassen möchte, die wesentlichen Merkmale und die Atmosphäre eines Ortes vollständig ausschöpfen, wenn er selbst ein Fremdwort in diesem Kontext ist?

Die Rolle der Komparatistik

Die Auseinandersetzung mit kolonialer und postkolonialer Literatur sowie die Debatte um die „Dekolonisierung des Curriculums“ zeigen auf, dass globales Denken eine komplexe Herausforderung ist. Politische Macht prägt die Weltanschauung der Menschen und wirkt darüber hinaus auf den Zeitgeist ein – weshalb Abgrenzungen oft weiterhin intakt bleiben. Gleichzeitig regt der Begriff Theorie mit seiner kontinuierlichen Fragestellung des „gesunden Menschenverstandes“ dazu an, diese Grenzen zu überschreiten und umzugestalten.

Interdisziplinäre Ansätze und eine sozusagen komparatistische Annäherung an das Leben tragen daher zu einem tieferen Verständnis der globalen Dynamiken bei.

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