Im Spiegelkabinett

Egal ob zum Flexen, Kritisieren oder Form-Checken, nirgendwo hat man so viele Gelegenheiten, sich selbst anzuschauen, wie im Fitnessstudio. Aber irgendwie scheint man in jedem Spiegel anders auszusehen. Emma Mehl ist dabei etwas aufgefallen.

Spieglein, Spieglein an der Wand. Foto: Emma Mehl.

Schwitzende Körper, unangenehmer Geruch, das Gefühl, ständig von allen beobachtet und verurteilt zu werden: Fitnessstudios sind schon an sich keine Wohlfühlorte. Ein Blick ist dabei wohl der strengste: der eigene. Im undankbar grellen Oberlicht sieht die Person mit dem hochroten Kopf maximal unvorteilhaft aus. Wer nun als weiblich gelesene Person in den Genuss des ausschließlich mit pinken Gerätschaften ausgestatteten »Frauenbereichs« einer bekannten Studio-Kette gekommen ist, der mag beim unauffälligen body check im Spiegel überrascht sein: Die eigene Statur scheint schmaler zu sein. Ist das Ziel der masochistischen Selbstoptimierungs-Aktion tatsächlich eine solche Silhouette, löst dieser Anblick wohl positive Gefühle aus. Quält man sich seit Wochen mit unhandlichen Gewichten, um doch irgendwann mal so etwas wie Kraft und sichtbare Muskelmasse aufzubauen, erwartet einen Enttäuschung. 

Nur wenige Meter entfernt wartet ein Spiegel, der den wahrscheinlich unwirtlichsten Ort eines jeden Fitnessstudios zeigt: den Freihantelbereich (all genders welcome?). Vor den unangetastet erscheinenden 2kg-Hanteln bis zu den abgenutzten 30kg-Modellen sitzen auf schweiß durchtränkten Hantelbänken (nicht pink, sondern schwarz) super harte Kerle mit super großen Muskeln, die ihrem Bizeps beim Arbeiten zu sehen. Wer sich nun traut, einen der begehrten Plätze für sich zu beanspruchen, um seine oder ihre Fliegengewichte zu stemmen, der wird belohnt: Schon nach der ersten Wiederholung fällt beim Blick in den Spiegel auf, dass wohl allein das Einatmen der Testosteron-geschwängerten Luft sofortige Wirkung zeigt. Aus schmalen Schultern wird ein Schwimmerrücken, aus dem Schwanenhals ein Stiernacken. Und das ganz ohne Protein-Shake und Kreatin-Supplement. Einige von Natur aus misstrauische Wesen, oder solche, die schon lange nicht mehr ihrem Spiegelbild vertrauen, werden diesem zu leicht gewonnenen Erfolgserlebnis nicht ohne Vorbehalt begegnen, und schauen sich die Sache mal genauer an. Ist es nur die eigene body dysmorphia oder ist da eine größere Verschwörung im Gange? Das Shirt des Herrn spannt auf jeden Fall um seinen nahezu rechteckigen Trizeps, aber in der Reflexion vielleicht noch ein bisschen mehr? Und der Opa im Trainingsanzug ging offensichtlich schon trainieren, als man noch unironisch Muckibude sagen konnte. Auch er wird seinem hypermuskulösen Spiegelbild irgendwie nicht gerecht. Aber das kann auch nur Einbildung sein, abhängig vom Winkel, oder den Klamotten. 

Im Hintergrund des Bildes befindet sich die Tür zu den Umkleiden, ein starres Objekt aus rechten Winkeln und geraden Kanten. Doch in der Reflexion scheint sie von mysteriösen Kräften verbogen worden zu sein. Der Rahmen ist nicht mehr schnurgerade, sondern wölbt sich deutlich nach außen, im gleichen Maße wie die Oberarme des Tanktop-Trägers, der gerade hindurchgeht. Zurück im rosaroten (Alb-)Traum des Ladie’s Room bestätigt sich der Verdacht: Die normalerweise geraden Balken der Fitnessgeräte biegen sich in der Reflexion zusammen mit der eigenen Taille nach innen. Den Blick vom Spiegel gelöst, konfrontiert mit der genormt rechteckigen Realität, ist die Illusion zerstört. Das Fitnessstudio ist enthüllt als das, was es schon immer war: ein Spiegelkabinett wie im Horrorfilm, das verzerrt und verwirrt, bis man nicht mehr weiß, was echt ist und was nicht

Das bilde ich mir nicht nur ein, oder? Foto: Emma Mehl

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