Viele Menschen haben den Wunsch, mehr zu sein als nur das Spiegelbild ihrer Eltern. Kritische Verhaltensmuster, die wir von unseren Eltern übernommen haben, können wir hinterfragen und versuchen, ihnen durch Selbstreflexion entgegenzuwirken; traumatische Erlebnisse können therapiert und aufgearbeitet werden. Worauf man als Kind allerdings wenig Einfluss hat, ist die transgenerationale Weitergabe von Traumata. Text: Jasmin Pflugradt.
Anmerkung: In diesem Artikel wird lediglich von ›Eltern‹ gesprochen, auch wenn ein Mensch selbstverständlich andere Erziehungspersonen haben kann. Für das Thema der Transmission von Traumata unter epigenetischen Gesichtspunkten ist ein (enger) Verwandtschaftsgrad allerdings ausschlaggebend, daher konnten andere Erziehungspersonen nicht miteinbezogen werden.

Das Thema der transgenerationalen Trauma-Transmission etablierte sich in den 1950er- und 1960er-Jahren, als Forschende begannen zu untersuchen, wie sich die Traumata des Holocausts auf die Nachfahren der Überlebenden auswirken.
Ein transgenerationales Trauma ist eine nicht (vollständig) verarbeitete Trauma-Erfahrung, die von der ersten Generation an die Nachfolgegeneration übertragen wird. Die daraus resultierenden psychischen Belastungen können sich ebenfalls in einer posttraumatischen Belastungsstörung äußern, obwohl die Nachfahren das Trauma selbst nicht erlebt haben. In einem Paper zu Depression und transgenerational weitergegebenem Trauma schildert die Psychotherapeutin Mariia Lenherr einen Beispielfall: Eine Patientin sucht psychotherapeutische Hilfe aufgrund wiederkehrender depressiver Symptome und berichtet von wiederholten Albträumen, in denen sie Panzer und Soldaten sieht und die Dringlichkeit verspürt, zu fliehen und sich zu verstecken, obwohl sie diese Ereignisse nie erlebt hat.
Die Mechanismen, die dieser transgenerationalen Transmission zugrunde liegen, sind komplex und lassen sich in unterschiedliche theoretische Erklärungsansätze der Psychologie einordnen. Aus psychoanalytischer Sicht versteht man unter dem Begriff eine unbewusste Weitervermittlung traumabedingter und traumaassoziierter Emotionen wie Trauer, Angst und Wut von einer Generation an die nächste, wie der Psychotherapeut Florian Dunkel in einem Artikel der Zeitschrift für Psychodrama und Soziometrie ausführt. Das kann dazu führen, dass sich Kinder mit den traumatisierten Persönlichkeitsanteilen ihrer Eltern identifizieren und unbewusst versuchen, anstelle ihrer Eltern das Trauma zu verarbeiten. Das Resultat: Die Unfähigkeit, zwischen sich selbst und dem Elternteil unterscheiden zu können, da der Individuationsprozess des Kindes gestört wird. Wenn der traumatisierte Elternteil keine Therapie aufsucht, kann es passieren, dass das Kind die fehlende therapeutische Rolle kompensiert. Beispielsweise wenn es belastenden Berichten des Elternteils im Übermaß ausgesetzt ist und als ständige*r Gesprächspartner*in verfügbar ist. Dies kann eine sekundäre Traumatisierung verursachen. Ein anderes destruktives Kommunikationsmuster ist Schweigen, wenn das erlebte Trauma also gar nicht thematisiert wird. Ohne einen differenzierten Dialog über das Erlebte können bei Kindern Angstphantasien, Wut und Schuldgefühlen entstehen, denn diese beobachten und absorbieren Gesten und Affekte ihrer Eltern.
Die in den Genen hervorgerufenen Veränderungen können somit auch an Nachkommen weitergegeben werden.
Jasmin Pflugradt
Auch die Epigenetik, ein Teilgebiet der Biologie, das sich mit dem Einfluss von Umweltfaktoren auf die Ausprägung von Genen auseinandersetzt, beschäftigt sich zunehmend mit dem Thema. Die biologischen Erklärungsmodelle besagen hierbei, dass traumatische Erlebnisse epigenetische Veränderungen hervorrufen können. Diese Veränderungen können permanent sein und vererbt werden. Hierbei spielt der Prozess der Methylierung, die Regulation der Aktivität von Genen, welcher dadurch auch die Genexpression beeinflusst, eine besondere Rolle. Die in den Genen hervorgerufenen Veränderungen können somit auch an Nachkommen weitergegeben werden. Traumabedingter Stress kann beispielsweise zu einem veränderten Cortisolspiegel führen, also eine Erhöhung der Stresshormone, die sich neben den traumatisierten Menschen auch in deren Kindern und Enkeln nachweisen lässt. Dies hat eine Veränderung der Fähigkeit zur Stressbewältigung zur Folge. Ein genauerer Blick auf die persönliche Familienhistorie kann lohnenswert sein, um die eigene Psyche besser zu verstehen und mögliche (bisher unbekannte) Traumata aufzudecken. Wie im Artikel The role of epigenetics in psychological resilience (2021) evaluiert wird, gibt es allerdings Hinweise darauf, dass auch Resilienz im Zusammenhang mit epigenetischen Faktoren steht.