Am 19. Februar, genau fünf Jahre nach dem Attentat in Hanau, fand am Deutschen Theater die Premiere von “Jugend ohne Gott” statt – ein Stück, teilweise basierend auf einem Roman von vor 100 Jahren, dessen Fragen nach Widerstand und Verantwortung heute aber wichtiger denn je scheinen. Eine Rezension von Emma Mehl.

Ferhat Unvar, Hamza Kurtović, Said Nesar Hashemi, Vili Viorel Păun, Mercedes Kierpacz, Kaloyan Velkov, Fatih Saraçoğlu, Sedat Gürbüz und Gökhan Gültekin. Ihre Namen sind seit 2020 jedes Jahr zum 19. Februar überall. Unter dem #saytheirnames wird an die Opfer des rassistischen Anschlags in Hanau erinnert und auch fünf Jahre später noch die Aufarbeitung gefordert, die bislang nur unzulänglich erfolgte. So wurden auch am Premiere-Abend von “Jugend ohne Gott” unter der Regie Emel Aydoğdu die Namen der Ermordeten auf eine durchscheinende Leinwand auf der ansonsten noch schwarzen Bühne der Kammer des Deutschen Theaters projiziert, während am anderen Ende der Stadt tausende Menschen für sie auf die Straße gingen.
„Was für eine Generation wird das sein? Eine harte oder nur eine rohe?”
Die Inhalte des Stücks könnten derzeit kaum relevanter sein: Im ersten Teil, basierend auf dem gleichnamigen Roman von Ödön von Horváth von 1937 geht es um junge Menschen, die sich durch Propaganda für Krieg begeistern, ihr Mitgefühl verlieren, zu verrohten Mitläufern werden. Erzählt aus der Perspektive eines namenlosen Lehrers, verhandelt von Horváth individuelle Verantwortung in einer Gesellschaft, in der Hass und Ausgrenzung sich immer stärker festigen. Horváth schrieb den Roman 1930, in einer Umgebung, die sich auf einen Zweiten Weltkrieg vorbereitete. Umso erschreckender ist es, dass sein Text heute so aktuell wie noch nie erscheint. Nicht nur im Angesicht des Rechtsrucks in Deutschland und Europa, sondern auch in Zeiten, in denen so massiv über Wiedereinführung der Wehrpflicht und Aufrüstung diskutiert wird.
Schulterpolster, Federn, dramatisches Make-Up. Was auch die Beschreibung eines 80er-Jahre-Musikvideo-Stylings sein könnte, ist eine der eindrucksvollsten Komponenten des Stücks. Denn die Kostüme der Darstellenden in Verbindung mit den vogelgleichen, ruckartigen Bewegungen leiteten bereits in der ersten Szene die unheimliche Stimmung ein, die sich durch die weitere Aufführung ziehen sollte. Was man über die folgenden anderthalb Stunden sagen kann ist, dass die eigentliche Handlung des Stücks nicht unbedingt im Vordergrund steht. Dabei bleibt auch unklar, wo sich das Stück von von Horvàths Buchvorlage löst. Was aber in Erinnerung bleibt, sind die vielfältigen, eindringlichen Sprechchöre des 12-köpfigen Ensembles und die Video-Projektionen von Tama Ruß. Die aber wohl größte Stärke des Stücks sind aber wohl seine Darsteller*innen. Auch wenn bei einer Premiere nicht immer alles perfekt läuft, macht die Intensität ihres Spiels das um Längen wieder wett. Obwohl sie vom Alter her alle nah beieinander waren, zwischen 16 und 23 Jahre alt, standen trotzdem 12 vollkommen unterschiedliche Menschen auf der Bühne, von denen jede*r seinen*ihren ganz eigenen Charakter hervorbringen konnte, egal ob in einem mehrminütigen Monolog oder in einer Reihe im Gleichschritt mit den anderen marschierend. In der zweiten Hälfte des Stücks nutzten die jungen Darsteller*innen ihre Bühne wortwörtlich, um auch anderen Stimmen ihrer Genration Gehör zu verschaffen: In Vorbereitung der Produktion trafen sich die Darsteller*innen mit Schüler*innen zwischen 15 und 17 Jahren in Berlin und fragten sie nach ihren Ängsten, Sorgen und Problemen, aber auch nach ihren Wünschen für die Zukunft.
„Zuhören. Nicht nur zu hören, sondern zuhören”
Der Premieren-Abend endete aber nicht mit der letzten Runde Applaus für die Beteiligten. Die Lichter im Saal waren bereits an, als Samir Suliman zusammen mit einer anderen Person aus dem Ensemble nochmal auf die Bühne kam. Noch einmal wiederholten sie die Namen der Opfer des Anschlags in Hanau und zitierten die Worte der Dichterin und Widerstandskämpferin Semra Ertan: “Solange ihr nicht erschöpft seid, solange ihr den Mut nicht verliert, seid ihr stark. Solange der Feind nicht besiegt ist und der Hass nicht vergeht, werdet ihr Widerstand leisten”. Sie erinnerten das Publikum daran, dass Widerstand und Aktivismus nicht damit anfangen und enden kann, sich ein Theaterstück anzusehen, sondern außerhalb des Saals, in einem Miteinander stattfinden muss.
„Wenn wir uns das erste Mal begegnen, reichen wir uns dann die Hand?”
„Wie wäre es, nicht nur die Hand zu reichen, sondern auch die Augen und die Ohren?”
Die Zuschauerin, die nach der Aufführung sagte, “Es ist schon preaching to the choir”, liegt zwar nicht falsch, da höchstwahrscheinlich die Menschen, die sich freiwillig dieses Stück anschauen, nicht unbedingt die sind, die es am meisten bräuchten. Im Stück wird aber auch immer wieder betont, was für ein Privileg es ist, dass es vor allem in Großstädten wie Berlin Räume gibt, in denen junge Menschen sich entfalten können, in denen Austatusch stattfindet und Safer Spaces geschaffen werden. Genauso lohnt es sich aber vielleicht auch, das nächste Mal, wenn die konservative Seite der Familie zu Besuch in Berlin ist, einen Ausflug ins Theater vorzuschlagen. Das Team um Emel Aydoğdu und das junge Ensemble haben mit dieser Inszenierung von “Jugend ohne Gott” nämlich ein absolut sehenswertes Stück geschaffen, das Hoffnung für die nächste Generation am Theater macht.
Die nächsten Vorstellungen sind am 21.03, 16.04 und 22.04.