Der Tag, an dem ich verdampfte

Mittwochabend im September. Eine Freundin aus England war zu Besuch. Wir wollten die letzten Sommertage nutzen und an den See fahren– bepackt mit einem Baguette und zwei Flaschen Wein. Die spätsommerliche Freude über das kalte Wasser, Schwäne, die auf der Suche nach Brotkrümeln waren, das anfängliche Zögern, die Haare nass zu machen, weil man ja wieder duschen müsste, und die Zweifel darüber, wie der eigene Körper in den Augen anderer aussehe, sammelten sich und amplifizierten die drückende Spätsommerwärme. Gegen neun Uhr ging die Sonne unter, wir nahmen die S-Bahn zurück in die Stadt und saßen bei mir um die Ecke in einer Bar. Ich habe an dem Abend wohl zu viel getrunken, und unter dem immer dunkler werdenden Himmel entschloss ich mich nach Hause zu gehen und ein taktisches Manöver durchzuführen. 

Schnell erkannte ich allerdings, dass das einzige Heilmittel für meinen Zustand eine Dusche wäre. Nicht nur eine gewöhnliche Dusche, sondern die beste aller möglichen Erfahrungen. Ich holte mir eine Feige aus dem Kühlschrank (zu der Zeit kosteten Feigen 39 Cent, sodass ich jeden Tag eine, manchmal auch zwei Feigen genießen konnte) und stieg mit meinem zweiten auserkorenen Heilmittel Patti Smith, genauer gesagt mit der Live-Aufnahme der Horses Legacy Edition aus 1975, unter die Dusche.

Illustration: Ava Walsdorf

Mit den Worten »Jesus died for somebody’s sins but not mine« trifft mich der dampfend heiße Wasserstrahl, und mir öffnet sich eine komplett neue Welt. Mein Körper wird zu MEINEM Körper – kein Objekt, das von anderen beobachtet und mit einem Wert assoziiert wird, sondern einfach nur MEINS. Patti Smith singt »my sins, my own / they belong to me. Me.«, und ich fühle mich geborgen. 

Mit dem zunehmend heißen Wasserstrahl sammelt sich Dampf an den Glaswänden meiner Dusche, sodass ich mich nicht mehr erkennen kann und ich das erste Mal, so wirklich bewusst, losgelöst von einem Spiegelbild bin. Ja – mein Körper gehört nur mir, er ist für mich da, ist bloßes Medium zwischen meiner Umwelt und meinem Selbst. Und gerade, in diesem Moment, existiert er nur für mich. Ich fühle das heiße Wasser auf meiner Haut, und während ich Shampoo auf meiner Kopfhaut einwirken lasse (ob das hilft, weiß ich nicht), esse ich meine Feige und merke, wie der süße Saft an meinem Kinn entlang läuft, von dem Wasserstrahl mitgerissen wird, und durch den Abfluss meine kleine Utopie verlässt. 

Nach circa 40 Minuten fühlte ich mich geheilt. Mir war weder schlecht noch interessierte es mich, ob mich heute irgendjemand in irgendeinem Moment hässlich gefunden haben könnte. Voller neu gefundener Selbstsicherheit und Anerkennung für das, was ich bin, stieg ich aus der Dusche und nahm mir fest vor, diese Utopie in mir selbst und in die Welt zu tragen. Schweren Herzens öffnete ich das Fenster auf Kipp und lud den Dampf ein, zu verschwinden. Von draußen kamen die Geräusche des Lebens, die ich vorher so gekonnt übertönt hatte. Mit dem flüchtigen Dampf wurden auch meine Reflexionen in Gläsern und dem Spiegel wieder sichtbar. Doch ich ließ mich nicht entmutigen. Ich stolzierte durch den Flur, an dem Spiegel meiner Uroma vorbei, ohne meine Reflexion mit nur einem wertenden Blick zu würdigen, und ging in die Küche zu meiner Freundin. Auf die Frage, wie es mir denn nun ging, antwortete ich: »Fabulous. I just had a pig and Fatti(e) Smith.« Dem losgelösten Raum der Dusche, den ich mir so sehr erkämpfte, entfloh ich mit diesen Worten endgültig. Wie der Dampf kroch er aus dem Fenster heraus, verblasste und ließ mich alleine zurück. 

Kurz darauf lief ich wieder an einem Spiegel vorbei und merkte mit zusammengezogenen Augenbrauen und gerunzelter Stirn, dass der Spiegel doch auch wieder für mich existierte, ich mich selbst wahrnahm und mich irgendwie in dieser Reflexion einfinden musste. Mein Äußeres hatte wieder eine Bedeutung, und ganz beschämt freute ich mich sogar über diese Zuschreibung. Den gesonderten Raum der Dusche, in dem nur Ich losgelöst von allem existieren konnte, konnte ich nur noch hinterhertrauern.

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