Spieglein, Spieglein im Gehirn: Das Märchen der Spiegelneuronen

In den 90er-Jahren entdecken Forscher Zelltypen, die zunächst als Revolution der Hirnforschung gefeiert werden. Spiegelneuronen seien die Basis für unsere menschliche Empathie. Eine gewagte Einschätzung – jedoch gerechtfertigt? Ein kritischer Blick in den Rückspiegel.

Illustration: Nađa Filipović

Wie so häufig in der Wissenschaft sind es meist Zufälle, die Forschende auf große Entdeckungen stoßen lassen. Oder zumindest lassen sich aus diesen die spannendsten Geschichten für die Öffentlichkeit schreiben. Ebenso in diesem Fall: Vor über 30 Jahren machten italienische Forschende eine unerwartete Entdeckung, die das Feld der Neurobiologie für die folgenden 20 Jahre vor lauter Faszination nicht loslassen sollte.

An der Universität von Parma führt 1992 ein Team von Wissenschaftlern um Giuseppe di Pellegrino und Giacomo Rizzolatti Verhaltensexperimente an Makaken-Affen durch. Das Ziel: Die Aktivität von Nervenzellen der Hirnrinde bei verschiedenen Bewegungsarten zu messen. Die Versuchstiere werden durch einen Stimulus mit anschließender Belohnung dazu animiert, eine Box zu öffnen und verschiedene Objekte herauszunehmen. Die hierbei beobachteten Neuronen reagieren jedoch anders als erwartet: Nicht nur bei einer Bewegung, die der Affe selbst durchführt, wird eine Aktivität aufgezeichnet. Die Neuronen des prämotorischen Cortex entladen sich auch, wenn die Forscher*innen dieselben Bewegungen vormachen. Es scheint, als würde das Gehirn die Handlung seines Gegenübers nachahmen, oder eben »reflektieren«. Eine Eigenschaft, die zuvor nie beobachtet wurde. Später erhalten die Nervenzellen vom selben Forschungsteam ihren berüchtigten Namen: Spiegelneuronen.

In Fachkreisen erregt diese Entdeckung großes Interesse und lädt zu Spekulationen ein. Wenn im eigenen Gehirn Handlungen eines Gegenübers gespiegelt werden, könnte dies damit zusammenhängen, wie wir die Absichten und Gefühle anderer nachvollziehen. Wieso muss ich gähnen, wenn eine andere Person es tut? Wieso verziehe ich das Gesicht, wenn sich jemand das Schienbein stößt? Wieso fange ich an zu weinen, wenn andere es tun? Enthusiastische Wissenschaftler*innen prognostizieren, die Spiegelneuronen seien ein fundamentaler Baustein unserer sozialen Interaktion. Es dauert nicht lange, bis Bögen zu Empathie, Sprachentwicklung und sogar zur Entstehung der menschlichen Kultur geschlagen werden.

»Spiegelneuronen werden für die Psychologie von gleicher Bedeutung sein, wie die DNA es für die Biologie ist.«

Um das Phänomen der Spiegelneuronen bricht ein gewaltiger Hype aus, der schnell die Öffentlichkeit erreicht. Vilayanur Ramachandran, Neurowissenschaftler der Universität von San Diego, behauptet im Jahr 2000: »Spiegelneuronen werden für die Psychologie von gleicher Bedeutung sein, wie die DNA es für die Biologie ist.« Eine mehr als kühne Hypothese. Knapp zehn Jahr später bezeichnet er sie sogar als »Neuronen, die unsere Zivilisation formten«. Die New York Times berichtet 2006 reißerisch von »Zellen, die Gedanken lesen können«. Dabei handelt es sich tatsächlich um ein sehr kontroverses Thema: Während einige Forschende die Spiegelneuronen zum heiligen Gral der Hirnforschung erheben, bestreiten andere, dass es diesen Typ Nervenzellen überhaupt gibt. Die Zahl der wissenschaftlichen Studien und Publikationen schießt in die Höhe und findet um das Jahr 2013 seinen Höhepunkt. Seither hat die Zahl jedoch stark abgenommen. Haben Spiegelneuronen denn nun die hohen Erwartungen erfüllt?

Ein Blick auf die Forschung des letzten Jahrzehnts zeigt, dass ihre tatsächlichen Funktionen weit überschätzt wurden. Ihnen werden heutzutage Teilfunktionen bei der Erkennung und Imitation von Bewegungen zugeschrieben, jedoch nicht zum Verstehen von Absichten. Es handelt sich nicht um einzeln arbeitende Zellen, sondern um komplexe Verbindungen vieler Neuronen. Eine einzelne Nervenzelle kann noch lange keine Bewegungen erkennen, erst neuronale Netzwerke machen solche Wahrnehmungen möglich. Man spricht daher von »Spiegelsystemen« oder »Arealen mit Spiegelfunktion«, die mittlerweile sowohl bei anderen Tierarten als auch bei Menschen bewiesen wurden. Besonders im sensomotorischen Lernprozess, also der Übertragung von Sinneswahrnehmungen zu Muskelaktivität, scheinen sie relevant zu sein. Bei der Beobachtung von Bewegungen werden visuelle Reize mit motorischen Handlungen verknüpft. Es wird angenommen, dass Spiegelsysteme nicht ausschließlich genetisch vorgegeben sind, sondern durch Wiederholungen und individuelle Erfahrungen geformt und auch wieder verändert werden können. Sie jedoch als »Basis für alles, was uns menschlich macht« zu bezeichnen, ist unvorsichtig und voreilig. Hochkomplexe Konzepte wie Empathie lassen sich nicht durch einzelne Zellgruppen erklären, so schön und plausibel die Geschichte auch klingt.

Obwohl die Entdeckung von Di Pellegrino und Rizzolatti nicht die erhoffte Revolution der Hirnforschung war, für die sie anfangs gehalten wurde, bleibt ihre Relevanz bestehen. Ihre Entdeckung förderte unser heutiges Verständnis von Lernprozessen, Motorik und sozialem Verhalten. Wenn man sie als einen Aspekt von vielen betrachtet, die unsere Kognition formen, bieten sie einen wertvollen Beitrag, um der Entschlüsselung unseres Gehirns einen kleinen Schritt näher zu kommen.

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