Die Macht der Reflexion

Die ersten Spiegel der Welt wurden um 3000 v. Chr. in Mesopotamien, der heutigen Türkei, gebaut. Spiegelungen sind also allgegenwärtig im menschlichen Alltag. Auch wenn eine Reflexion im Spiegel ganz simpel scheint und physikalisch leicht zu erklären ist, hat sie doch etwas Mystisches und ist immer wieder Teil von Sagen und Legenden. 

Illustration: Nadja Filipovic

Wie die meisten im westlichen Raum geläufigen Mythen stammt auch der bekannteste Mythos über Spiegel aus der griechischen Antike. Die Sage von Narziss und Echo ist im dritten Buch von Ovids Metamorphosen zu finden: Der junge Schönling Narziss wurde von vielerlei Leuten verehrt und wies dennoch jeden ab. Wegen seines überheblichen Verhaltens bestrafte ihn die Göttin Nemesis. Narziss könne von nun an nur noch sich selbst lieben. Als Narziss eines Tages in einer Wasserstelle sein eigenes Spiegelbild erblickte, verliebte er sich sofort, ohne zu merken, dass das Objekt seiner Begierde er selbst war. Weil er sich seinem Spiegelbild nicht nähern konnte und es immer wieder verschwand, sobald er es berührte und das Wasser aufwühlte, brach er in Verzweiflung aus. Erst nach einiger Zeit erkannte er, dass seine Liebe ihm selbst galt. »Iste ego sum« (das bin ich), sprach er. Narziss hielt dennoch an seiner Liebe fest und starb durch sein Leid. An seinem Todesort soll man eine Blume gefunden haben. So bekam die Narzisse ihren Namen. 

Auch in anderen Kulturen spielen Spiegel eine zentrale Rolle. Tezcatlipoca war der Gott der Nacht und der Materie der Tolteken und Azteken. Er wurde auch der »Rauchende Spiegel« genannt, da er immer mit einem magischen Spiegel dargestellt wurde, mit dem er in die Herzen und die Zukunft blicken konnte. Ihm wurde nachgesagt, alle Taten und Gedanken der Menschen zu kennen./Ein äußerst wichtiger Opferritus umgab den Gott. Jedes Jahr wurde aus den Gefangenen ein schöner junger Mann ausgewählt. Dieser sollte Tezcatlipoca widerspiegeln. Daher wurde er für ein Jahr mit Luxus und Verehrung überschüttet. Vier schöne, als Göttinnen verkleidete Mädchen wurden als seine Begleiterinnen ausgewählt. Der Schönling musste zu einem Tempel hinaufsteigen, wo er geopfert wurde. Im nächsten Jahr sollte der Spiegelgott von einem anderen jungen Mann verkörpert werden.

Auch in der Mythologie Japans haben Spiegel eine herausragende Bedeutung. Der Yata no Kagami ist ein heiliger Spiegel aus Japan. Gemeinsam mit einem heiligen Schwert und einem Edelstein bildet er die Reichsinsignien Sanshu no Shinki, welche den japanischen Kaisern bei ihrer Thronbesteigung ausgehändigt wurden. Einer Sage zufolge hat der Spiegel Amaterasu-ômikami gehört Sie ist eine der höchsten Göttinnen des Shintoismus, einem der wichtigsten Volksglauben in Japan. Als die Sonnengöttin Amaterasu-ômikami sich in einer Höhle versteckte, war die ganze Welt in Dunkelheit gehüllt. Die Göttin Ame-no-Uzume stellte den Spiegel vor den Eingang der Höhle, um sie herauszulocken. Die Sonnengöttin erblickte nun zum ersten Mal ihr eigenes Spiegelbild und war so fasziniert, dass sie langsam aus der Höhle heraus kroch. So kehrte auch das Licht in die Welt zurück. Amaterasu-ômikami übergab die Reichsinsignien Sanshu no Shinko ihrem Enkel Ninigi no Mikoto, der auf die Erde herabsteigen und sie regieren sollte. Ninigi gab den Spiegel seinem Urenkel Jimmu-tennô, dem ersten japanischen Kaiser. Von nun an wurden die Insignien über Generationen weitergegeben. 

Spiegel begeistern die Menschen seit jeher. Es scheint, als würde in ihnen eine zweite Welt kreiert werden. Viele Mythen und Sagen entstanden, um diese Wirkung zu erklären. Von Kultur zu Kultur wurde sie im Laufe der Zeit anders interpretiert. Spiegel stehen für vielerlei Dinge: für Schönheit und Eitelkeit, für Macht und Allwissenheit sowie für Neugier und Selbsterkennung.

Autor*in

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert