»Was hätte ich anders machen können?«

Du liegst seit Stunden im Bett, grübelst vor dich hin und findest einfach nicht in den Schlaf. Gedankenkarusselle kennen wir alle. Aber ist das noch konstruktives Hinterfragen – oder schon destruktives Grübeln? Ein Gespräch über Selbstreflexion mit dem klinischen Psychologen Pierre Schleicher.

Im Rahmen der Artikelrecherche haben wir auch Studierende an der FU zum Thema Selbstreflexion befragt. Die Umfrage wurde online und anonym über Google Forms durchgeführt. Es nahmen 48 Studierende teil.
Umfrage & Grafiken von Julie Rechenberg

FURIOS: Wenn man sich mit Psychologie beschäftigt, stößt man früher oder später auf den Begriff »Selbstreflexion«. Was verstehst du darunter?

Schleicher: Selbstreflexion ist die Fähigkeit, eigene Handlungen, Gedanken, Gefühle und Motive kritisch zu hinterfragen und daraus eventuell auch Veränderungen für das eigene Handeln oder für die eigene Bewertung von Situationen abzuleiten.

Welche Rolle spielt Selbstreflexion im Kontakt mit deinen Patient*innen?

Eine gesunde Fähigkeit zur Selbstreflexion ist ein wichtiger Schritt, um erfolgreich Therapie zu machen. Ein Beispiel: Jemand, der depressiv verstimmt ist und dazu neigt, sich selbst abzuwerten, ist ja schon nah dran an dem, was man sich vielleicht unter Selbstreflexion vorstellen könnte – also nachdenken über sich selbst. Die Person ist dabei aber einseitig negativ verfärbt und nicht wirklich reflektiert, weil sie nicht konstruktiv und realistisch ist. Da ist das tatsächliche Reflektieren eine wichtige Fähigkeit, die erlernt werden sollte.

Wozu ist Selbstreflexion denn außerhalb des psychotherapeutischen Kontexts gut?

Selbstreflexion kann zum Beispiel dafür genutzt werden, Konfliktsituationen aufzulösen. Da ist diese Fähigkeit wichtig, um gute Lösungen zu finden, eigene Verhaltensweisen zu hinterfragen und eigene Anteile an Konflikten zu reflektieren. Auch in der persönlichen Entwicklung ist Selbstreflexion wichtig, um sich darüber bewusst zu werden: Was sind Fähigkeiten, Stärken und Schwächen von mir? 

Das gelingt manchen leichter als anderen. Gibt es bestimmte Voraussetzungen, die darüber entscheiden, wie gut man sich selbst reflektieren kann?

Es gibt in der Psychotherapieforschung das Konzept vom Reflective Functioning – die grundlegende Fähigkeit, sich selbst und andere als Personen mit mentalen Zuständen wie Gedanken und Gefühlen wahrzunehmen. Das ist wichtig, weil es auch einen selbst betrifft. Diese Fähigkeit entwickelt sich im Laufe des Lebens, wobei vor allem die Interaktionen mit frühen Bezugspersonen wichtig sind. Jemand, der kein starkes oder stabiles Reflective Functioning besitzt, wird auch zwangsläufig Schwierigkeiten mit Selbstreflexion haben, weil es dafür die Grundvoraussetzung ist.

Welche Herausforderungen oder welche Schwierigkeiten habe ich heute gehabt? Wie bin ich mit ihnen umgegangen? Was sagt das über meine Stärken aus?

Pierre Schleicher, klinischer Psychologe

Nehmen wir mal an, eine Person verfügt über ein stabiles Reflective Functioning, ist sich aber unsicher, wie sie gezielt über ihr Verhalten nachdenken kann. Welche Übungen oder Methoden würdest du dieser Person an die Hand geben?

Manchmal gebe ich meinen Patient*innen Selbstreflexionsfragen mit, für die sie sich am Tagesende fünf bis sieben Minuten Zeit nehmen sollen. Zum Beispiel: Welche Herausforderungen oder welche Schwierigkeiten habe ich heute gehabt? Wie bin ich mit ihnen umgegangen? Was sagt das über meine Stärken aus? Und was kann ich das nächste Mal im Umgang mit Schwierigkeiten anders machen? Dann kann man noch Tagebuch führen oder journalen. Im Gegensatz zum Tagebuch, wo man die Inhalte des ganzen Tages herunterschreibt, geht es beim Journaling eher darum, auf die affektive Ebene zu gehen und wichtige Gefühle und emotionale Momente aufzuschreiben. Außerdem kann man sich natürlich auch bewusst Feedback von anderen Mitmenschen einholen, gerade wenn es einem schwerfällt, über sich selbst nachzudenken oder dies auf ausgewogene Weise zu tun. Grundsätzlich ist es wichtig, dass man sich für Selbstreflexion einen ruhigen Moment aussucht, in dem man auch emotional ausgeglichen ist. 

Bei Selbstreflexion ist das Wichtige, dass es zielgerichtet ist und vom Charakter her eher lösungsorientiert.

Pierre Schleicher, klinischer Psychologe

Kann es auch zu viel Selbstreflexion geben? In anderen Worten: Kann eine zu intensive Selbstbeobachtung und Grübelei mehr Probleme verursachen?

Ich finde die Frage schwierig. Selbstreflexion und Grübeln sind Prozesse, die schon gewisse Ähnlichkeiten haben. Ich glaube, das kann auch ineinander übergehen. Man kann zu viel über sich selbst nachdenken, das schon, aber ich würde das differenzieren wollen. Bei Selbstreflexion ist das Wichtige, dass es zielgerichtet ist und vom Charakter her eher lösungsorientiert. Es ist wichtig, das auch zeitlich zu begrenzen. Das, worin man schnell abrutscht, ist das Grübeln, was eher auf Schwierigkeiten und Probleme gerichtet ist. Das ist dieses Gedankenkreisen um bestimmte negative, schwierige Themen, von denen man nicht mehr loskommt.

Nun zum Abschluss noch eine hypothetische Frage: Wie könnte unser Leben aussehen, wenn alle mehr Selbstreflexion praktizieren würden?

Ich glaube, man würde allgemein mehr zusammen über Dinge sprechen, vor allem über Schwierigkeiten und Konflikte. Viele würden sich mehr Feedback von anderen einholen. Man würde beispielsweise nach Konfliktsituationen einfach nochmal nachfragen: »Was war denn los?«, »Was hat dich gestört?« und »Was hätte ich anders machen können?«. Ich kann mir aber nicht unbedingt vorstellen, dass es dann weniger Konflikte geben würde, aber ich denke, dass im Nachhinein anders damit umgegangen werden würde und dass dadurch unser Miteinander insgesamt eher positiver wäre.

Es handelt sich hier nur um eine Stichprobe. Es wurden genau diese fünf Antworten ausgewählt, da sie exemplarisch für die verschiedenen Themengebiete stehen, auf die sich die Befragten am meisten bezogen haben.

Grafik von Julie Rechenberg & Luca Klander

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