„Am Ende wird er gestürzt werden“

Nach der Verhaftung des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu führen Studierende in der Türkei die Massenproteste gegen das Regime von Recep Tayyip Erdoğan an. Wie geht es türkischen Studierenden in Berlin?

Quelle: Anonym

In Berlin-Moabit scheint die Sonne. Fatma* sitzt auf einer Bank an der Spree, ihr neuer Lieblingsort in der Stadt. Große Laubbäume versperren die Sicht auf das Wasser. Immer wieder laufen Menschen mit Hunden vorbei. Es ist ruhig. Fatma ist Studentin an der Freien Universität Berlin. Und sie ist Türkin. Wenn sie im Moment an ihr Heimatland denkt, spürt sie eine Mischung aus Hoffnung und Sorge. Yusuf* treiben in diesen Tagen ähnliche Gedanken um. Auch er studiert in Berlin und stammt aus der Türkei. Die Tage in Istanbul sind zurzeit weniger ruhig als in Berlin.

Am 19. März 2025 wurde der Bürgermeister der Stadt, Ekrem İmamoğlu verhaftet. Seitdem sitzt er in Untersuchungshaft. Dem Bürgermeister werden Terrorismus und Korruption vorgeworfen, die Opposition bezeichnet die Verhaftung als politisch motiviert. Sie spricht von einem „Putschversuch“. İmamoğlu gilt als Hoffnungsträger der türkischen Opposition und als größter Konkurrent von Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Seine Verhaftung geschah wenige Tage, bevor ihn die Oppositionspartei CHP zum Präsidentschaftskandidaten ernannte.

Die Festnahme von İmamoğlu hat eine Protestwelle ausgelöst. In Istanbul und vielen anderen Orten des Landes demonstrieren tausende Menschen für seine Freilassung. Und gegen das Regime Erdoğan. An der Spitze der Proteste stehen viele Studierende und junge Menschen. Fatma und Yusuf haben in Istanbul studiert, bevor sie vor etwa anderthalb Jahren nach Berlin gezogen sind. Wie blicken sie heute auf die Proteste und die Situation in der Türkei? 

Das Ende der Demokratie?

Im ersten Moment war sie hoffnungslos, erzählt Fatma. Sie schrieb sofort ihren Freund*innen und ihrer Familie, redete mit ihrer türkischen Mitbewohnerin über die Geschehnisse, als sie von der Festnahme erfuhr. Dabei schwang immer eine große Frage mit: Ist das das Ende der Demokratie in der Türkei? Auch Yusuf war im ersten Moment geschockt. Er habe zwar schon erwartet, dass Erdoğan gegen seinen größten Konkurrenten vorgehen würde. Die Festnahme habe ihn dennoch überrascht. Erdoğan wolle sich selbst aussuchen, gegen wen er bei den Wahlen antritt, sagt Yusuf. Doch dann gab es einen Moment, in dem er Hoffnung schöpfte. Als er sah, dass Hunderttausende gegen Erdoğan auf die Straße gingen, dachte er zum ersten Mal: Das könnte etwas Großes werden.

Viele Freund*innen von Yusuf und Fatma leben noch in der Türkei. Sie gehen auf die Proteste, stehen in den vordersten Reihen. Für die Studierenden in Berlin ist das nicht immer einfach. „Ich denke durchgehend an sie“, erzählt Fatma. Wenn ihre Freund:*innen unterwegs sind, geben sie Fatma stündliche Updates, um sicherzugehen, dass ihnen nichts Schlimmes passiert ist. Auch Yusuf fürchtet um die Sicherheit seiner Freund*innen in Istanbul. Dass jemand kommt, und sie abholt oder sie bei einer Demonstration verletzt werden. Über 2.000 Menschen hat die türkische Polizei bereits bei den Protesten gegen das Regime festgenommen, darunter auch zahlreiche Journalist*innen. Die Berichte über Polizeigewalt häufen sich. Doch die jungen Demonstrierenden lassen nicht nach. Die Angst vor Repression durch die Polizei sei kleiner als vor einer dystopischen Zukunft, sagt Fatma. Viele der jungen Protestierenden kennen keine Türkei ohne Erdoğan, der seit 2014 als Präsident an der Macht ist. Sie wollen Veränderung, erklärt Yusuf.

Und in Berlin? Das Leben gehe weiter, Deadlines für Uni-Abgaben warten nicht. Yusuf und Fatma versuchen, sich nützlich zu machen, ihren Teil zur Bewegung beizutragen. Auf Social Media teilen sie Info-Beiträge, schreiben ihre Gedanken zu den Geschehnissen auf. Ob sie Angst haben, dass die Social Media Posts negative Konsequenzen haben könnten? Natürlich, sagt Yusuf. Mit der Zeit habe er zwar gelernt, seine Kritik so zu formulieren, dass er nicht zur Zielscheibe der Regierung wird – trotzdem bleibt die Angst bestehen.

Seit der Verhaftung İmamoğlus gibt es auch in Berlin Proteste gegen Erdoğan. Die Demonstrationen bieten eine Möglichkeit, Wut, Sorge und Hoffnung, die sich in ihm angestaut haben, endlich rauszulassen. Das sei wichtig. Ansonsten bauen sich die Gefühle immer weiter auf, „und dann ist man wie gelähmt“.

Quelle: Anonym

Darf ich mich ablenken?

Yusuf und Fatma verfolgen ständig Berichte von Bekannten, Social Media und Nachrichten – eine starke Belastung im Alltag. „Manchmal weine ich“, erzählt Fatma. Wenn sie eine kurze Pause einlegt, rausgeht, ihr Leben in Berlin lebt, fühle sie sich schuldig. Schuldig, nicht an der Seite ihrer Bekannten in der Türkei für mehr Freiheit zu kämpfen.

Um sich von den Gedanken an die Situation in der Heimat abzulenken, geht Yusuf zum Yoga, sperrt sein Handy im Schließfach ein, versucht, für drei Stunden in eine andere Welt zu tauchen. Doch ganz verschwinden die Gedanken nie aus seinem Kopf, erzählt er. Gleichzeitig weiß er um seine privilegierte Position im sicheren Berlin.

Trotz der täglichen Bilderflut und konstanter Sorge um die eigenen Freund*innen und Familie stimmen die Proteste Yusuf und Fatma auch positiv. „Am Ende wird er gestürzt werden“, sagt Yusuf. Die Demokratie sei stärker als Erdoğan. „Und wenn er irgendwann weg ist, werden wir da sein und das Land wieder aufbauen.“

*Anmerkung der Redaktion: Zum Schutz der Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner sind die Namen der Studierenden geändert. Die richtigen Namen sind der Redaktion bekannt.

Autor*in

Ähnliche Artikel

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert