Sich selbst den Spiegel vorhalten oder doch lieber anderen? Ich habe mit meiner Freundin Louisa darüber gesprochen, wie sie als Psychologin das Spiegeln in zwischenmenschlichen Beziehungen einordnen würde. Ein persönliches Essay von Amelie von Nitzsch.

»Ich habe das Gefühl, du bist genervt von mir«, höre ich meinen Partner sagen. Dabei bin ich das doch gar nicht: zumindest nicht von ihm. Die nächste Uni-Abgabe schlummert unfertig in dem offenen Word-Dokument und an meine ganzen unbeantworteten WhatsApp-Nachrichten will ich gar nicht erst denken. Das neue Semester hat mich mal wieder fest im Griff und alles, was ich gerade möchte, ist mich darüber zu beschweren. Ich habe nicht daran gedacht, dass mein Verhalten für meinen Freund so wirken könnte, als hätte das etwas mit ihm zu tun. Hat er mir doch ganz lieb Frühstück gemacht und gefragt, wie es mir geht – na, wie soll es mir damit gerade schon gehen – ich bin gestresst! Obwohl er mir zeigt, dass er mich versteht, fühle ich mich vor den Kopf gestoßen, weil er mein genervtes Verhalten anspricht. Wirkt es denn wirklich so, als läge mein Gefühlschaos an ihm?
»Spiegeln an sich heißt erstmal, dass man die Verhaltensweisen der anderen Person widerspiegelt oder übernimmt – das kann bewusst oder auch unbewusst passieren«, so definiert Louisa den psychologischen Begriff.
Wir teilen Gedanken, nehmen Gefühle wahr, zeigen diese selbst und reagieren – oder schauen, wie die andere Person auf uns reagiert: wir spiegeln.
Es ist ein Werkzeug zur Selbsterkenntnis und Selbstbeobachtung durch andere, das es uns ermöglicht, uns mit unseren Ängsten, Wünschen und inneren Konflikten auseinanderzusetzen. Spiegeln kann in zwischenmenschlichen Beziehungen aber auch ganz bewusst dazu genutzt werden, Missverständnisse zu vermeiden, die Kommunikation zu verbessern und emotionale Nähe zu schaffen.
Louisa ergänzt: »Ich würde sagen, man spiegelt immer. Wie gut dieser Prozess funktioniert, hängt aber auch davon ab, wie gut man sich in andere Personen hineinversetzen kann. Empathie hilft da natürlich weiter.« Ich denke direkt an diverse Dating-Geschichten von Freund*innen – anscheinend gibt es mehr als nur eine Handvoll Menschen, denen das Spiegeln in zwischenmenschlichen Beziehungen ziemlich schwerfällt. Häufig wurden die Gefühle des anderen nicht nur missverstanden, sondern auch manipuliert. Ich erzähle Louisa davon und sie erklärt mir, dass es unterschiedliche Bindungstypen gibt.
Beim einzig sicheren Bindungstypen haben Menschen viel Vertrauen in ihr Gegenüber und es fällt ihnen leichter, eine liebevolle, stabile Beziehung einzugehen. Im Kontrast dazu stehen die unsicheren Bindungstypen. Beim unsicher-vermeidenden Typ wird dem Wunsch nach Nähe nicht nachgegangen, indem Gefühle schlichtweg aus Angst vor Zurückweisung nicht geäußert werden. Eine ähnliche Angst herrscht bei dem unsicher-ambivalenten Typ, nur ergibt sich die Vermeidung hier aus den erfahrenen, oftmals sehr widersprüchlichen Verhaltensweisen von verschiedenen Bezugspersonen – denn manchmal waren diese verfügbar und manchmal sehr abweisend. »Deshalb haben Personen mit diesem Bindungstyp oft Angst vor Ablehnung und neigen zu einer starken Anhänglichkeit, was auch kontrollierend wirken kann«. Der unsicher-desorganisierte Typ erfuhr von seinen Bezugspersonen traumatisierendes oder sogar missbräuchliches Verhalten, was im Folgenden oft tiefgreifende Schwierigkeiten in Beziehungen hervorruft.
Verhalten sich die Personen der verrückten Dating-Geschichten von Freund*innen also nur auf so eine verletzende Art und Weise, weil sie das so von ihren Bezugspersonen gelernt haben? Wird hier nur ein unsicherer Bindungstyp gespiegelt und Vorwürfe an sie sind komplett unangebracht? Louisa überzeugt das nicht: »Ich würde schon sagen, dass unser Bindungstyp einen starken Einfluss darauf hat, wie wir unser Gegenüber spiegeln. Schließlich spiegeln wir ja nur durch das eigene Erlebte auf eine bestimmte Art und Weise. Allerdings lernt man sich durch gutes Spiegeln anderer auch selbst nochmal besser kennen. In manchen Situationen wissen wir ja, dass wir etwas falsch gemacht haben – in anderen aber nicht. Das müssen wir in vielen sozialen Situationen erst einmal lernen. Wir tun dies vor allem, indem uns von außen gespiegelt wird, wie unser Verhalten wirkt. Personen können also sehr wohl für ihr Verhalten verantwortlich gemacht werden – oder sollten es sogar unbedingt.«
Das Spiegeln anderer hat also einen starken Einfluss darauf, wie wir uns selbst entwickeln. Es ist ein Geben und Nehmen: Andere beeinflussen uns durch ihr Spiegeln und wir tun dies wiederum mit unserem Spiegeln für andere Personen. Es ist ziemlich erschreckend, darüber nachzudenken, welche Verantwortung auf den Schultern von Bezugspersonen liegt. Obwohl: Sucht man sich diese Verantwortung nicht irgendwo auch aus, wenn man eine tiefere Beziehung eingeht – egal ob als Eltern oder als Partner*in? Können diese Personen schuld daran sein, dass man möglicherweise nie in seinem Leben eine gesunde, stabile Beziehung eingehen kann? Louisa erwidert: »Bindungstypen wechseln, spiegeln lernen – all das hängt von jeder einzelnen Beziehung ab, die wir in unserem Leben eingehen. Klar spielen die Eltern da eine große Rolle und auch Partner*innen haben einen großen Einfluss. Wir lassen uns schließlich, im besten Fall, stark emotional auf eine romantische Beziehung ein.«
»Bindungstypen wechseln, spiegeln lernen – all das hängt von jeder einzelnen Beziehung ab, die wir in unserem Leben eingehen.«
Muss man wissen, welcher Bindungstyp man selbst ist oder wie man generell gut spiegelt, um das eigene Bindungsverhalten zu verbessern, oder geht das auch unbewusst? Ich selbst bin mir sicher: Meine Beziehung wäre nicht so wie sie ist, hätte ich zwischendurch nicht wenigstens ein bisschen mein Verhalten reflektiert – und mein Partner seins ebenso. Louisa bestätigt mir, dass es sich hier um einen Lernprozess handelt, der zwar teilweise beiläufig abläuft, aber dennoch unbedingt auf eine bewusste Ebene gehoben werden sollte. »Um Beziehungen aufrechtzuerhalten, ist gutes Spiegeln absolut notwendig: Wir müssen lernen, zu kommunizieren und auf die andere Person zuzugehen, aber gleichzeitig auch Feedback und Kritik erhalten können, ohne uns angegriffen zu fühlen. Sich dabei zu fragen, wieso man sich überhaupt angegriffen fühlt, kann ein guter Anfang sein.«