Wenn Pulte, Tische und Stühle zur unerwarteten Herausforderung werden und wie der Kampf ums perfekte Bild die politische Bühne prägt. Marlon Wright auf einer Reise durch die unerwartete Möbelgeschichte deutscher Kanzler.

Samstagmorgen. Ich liege im Bett und scrolle gedankenverloren durch meine Timeline, als ein Video meine Aufmerksamkeit weckt. Zu sehen: Bundeskanzler Friedrich Merz, sichtlich aufgebracht, in einem Fernsehstudio. „Kann man hier etwas höher machen, die Pulte?“, fragt Merz. Die Antwort: Nein. Doch statt sich damit abzufinden, steigert sich Merz in eine regelrechte Pult-Krise hinein. Er spricht von gebrochenen Abmachungen seitens der Show, pocht auf ein anderes Rednerpult und bekommt es schließlich auch.
Das Video wurde in nur einer Woche über 1,2 Millionen Mal auf YouTube aufgerufen. Der Top-Kommentar: „Die Wahlversprechen waren auch anders verabredet! Das Pult hat mehr Niveau als Sie.“ − 1.500 Likes. Während das Pult gefeiert wird, erntet Merz die altbekannten Vorwürfe: egozentrisch, empathielos, arrogant. Doch erstaunlicherweise ist er nicht der erste Kanzler, der sich mit dem TV-Mobiliar anlegt, zumindest solange er glaubt, dass die Kameras noch nicht laufen.
Kiesinger und der hässliche Tisch
Wir schreiben das Jahr 1968. Kurt Georg Kiesinger steht auf dem Höhepunkt seiner politischen Karriere. Nachdem die Regierung Ludwig Erhards im Oktober 1966 gescheitert war, suchten CDU/CSU nach einer neuen Mehrheit – und fanden sie in der SPD. Kiesinger wird der erste GROKO-Kanzler in Deutschland. Er sollte mit einem zweifelhaften Erbe in die Geschichte eingehen: Als bislang einziger Bundeskanzler mit NSDAP-Vergangenheit war er maßgeblich an Gesetzesbeschlüssen beteiligt, die zur Verjährung von NS-Kriegsverbrechen führten.
Doch abseits seiner kontroversen politischen Entscheidungen sorgt 1968 ein eher triviales Problem für Aufsehen: ein Tisch. Der Kanzler befindet sich in einem für die späten 1960er Jahre modern eingerichteten Wohnzimmer. Kiesinger sitzt in einem Sessel, ihm gegenüber ein Journalist. Noch bevor dieser die erste Frage stellen kann, unterbricht der Kanzler: „Sehen wir nicht ein bisschen steif aus so? Und der Tisch ist so hässlich …“ Dabei zeigt er auf ein eher unauffälliges, von Bauhaus inspiriertes Möbelstück, das zwischen ihnen steht. Der arme Tisch muss sich in den nächsten Momenten eine Beleidigung nach der anderen gefallen lassen. Ob der Tisch, wie später das Rednerpult bei Merz, ebenfalls aus dem Blick der Öffentlichkeit verbannt wurde, lässt sich heute leider nicht mehr aufklären.
Kohl und der entsetzliche Stuhl
Eine Pressekonferenz im Jahr 1990: Für Helmut Kohl, Kanzler der Einheit, dem weder Michail Gorbatschow noch der Eiserne Vorhang etwas entgegensetzen konnten, eine Kleinigkeit, sollte man meinen. Doch als Kohl die Sitzmöglichkeiten inspiziert, darunter ein altmodisches, tiefes Sofa (Kohl nennt es Stuhl), fällt es ihm wie Schuppen von den Augen: „Machen Sie Fernsehaufnahmen? Dann gehe ich nicht auf diesen Stuhl!“, ruft der kompromisslose Pfälzer in den Pressesaal. Die Kameras laufen längst und fangen die folgenden Momente ungeschnitten ein. Kohl besteht nun auf einen anderen Stuhl und wünscht für seinen Vizekanzler Hans-Dietrich Genscher: „Gebt dem Hans-Dietrich auch noch einen!“
Ein Kommentar unter dem Video beschreibt die Szene treffend: „Könnte ein Gag von Loriot sein.“ – abermals über 1.500 Likes.
„Der Kampf um die besseren Bilder“
Es ist lustig zu sehen, wie staatstragende Politiker*innen an einfachen Möbelstücken verzweifeln. Doch steckt hinter den Videos eine weitaus tiefergehende Thematik: Der Kampf um die besseren Bilder, wie es Dr. Dennis Steffan benennt. „Politiker*innen wollen positiv gezeigt werden und versuchen dies durch geschickte Inszenierung zu kreieren. Letztlich geht es um die Deutungshoheit [der Bilder] und die möchten Politiker*innen gern selbst haben. Doch unterliegt die Medienberichterstattung den journalistischen Selektionskriterien, auf die Politiker*innen nur bedingt Einfluss nehmen können.“, erläutert der Kommunikationswissenschaftler.
„Heutzutage wissen wir aus der Forschung, dass visuelle Darstellungen von Politiker*innen unsere Urteile über sie und sogar unsere Wahlentscheidung beeinflussen können. Es ist daher nicht überraschend, dass Politiker*innen so großen Wert auf ihre mediale Darstellung legen.“
Steffan spricht von einem Setting, welches im Idealfall passend zur Wahrnehmung der Zuschauenden sein soll. So lässt sich etwa eine Bürgernähe kreieren, indem sich die Politiker*innen eher mit Jeans und Pullover als im Anzug präsentieren. Eingeladen wird zu Diskussionen am Küchentisch oder es werden Fotos des letzten Fast-Food-Besuch gepostet – alles Dinge, die wir aus dem jüngsten Bundestagswahlkampf von den Spitzenkandidat*innen kennen.
Selbst in den letzten Jahren gab es genügend Beispiele, die die Kraft der Bilder unterstreichen. Armin Laschets Kanzlerhoffnung zerschlug sich wohl eher an seinem Lachen im Flutgebiet als am Charisma von Olaf Scholz. Und selbst im letzten Jahr musste Joe Biden nach seinem ernüchternden Auftritt im TV-Duell gegen Donald Trump die Kandidatur zurückziehen.
Am Ende lässt sich sagen: Politiker*innen wollen nicht einfach nur gesehen werden – sie wollen RICHTIG gesehen werden. Doch selbst das sorgfältig konstruierte Image kann durch ein unglücklich platziertes Möbelstück ins Wanken geraten. Vielleicht berühren uns genau solche Momente so sehr, weil sie zeigen, dass hinter jeder Inszenierung auch ein Mensch steht, mit Ecken, Kanten und individuellem Möbelgeschmack.