Stillen passiert nicht nebenbei. Es braucht Zeit, Kraft und Körper, die stillen – doch gerade als reproduktive Arbeit bleibt Stillen oft ungesehen und vor allem eins: unbezahlt. Spiegelt sich darin also immer auch ein Stück gesellschaftliche Stille? Ein Fotoessay von Mara Stöhr.

In der Buslinie 265 nach Schöneweide ist es heiß. Menschen drängeln sich bis nach hinten durch, um noch einen Sitzplatz zu bekommen. Hier jetzt ein Kind stillen – das stelle ich mir stressig vor. Ich habe zwar selbst noch nie gestillt, bin aber gerade auf dem Weg zu Personen, die es tun. Während ich noch zwischen Kinderwägen und Blumensträußen über das Stillen nachdenke, fällt mir auf, dass das bei mir nur mit einem Bild verknüpft ist: ein ruhender Kinderkörper, der an meinen Brustwarzen saugt.
Stiller Austausch
Ein erster Blick auf die biochemischen Prozesse zeigt jedoch bereits, wie komplex das Stillen wirklich ist. Über die Milch werden Neugeborene mit allen lebenswichtigen Nährstoffen versorgt: Kohlenhydrate, Proteine, Fette, Vitamine, Mineralien und Immunfaktoren. Letztere helfen dabei, einen ersten Immunschutz aufzubauen. Doch Stillen ist keine Einbahnstraße. Durch den Saugreflex werden sensorische Signale über die Brustwarzen an das Gehirn der stillenden Person weitergeleitet. Diese wiederum lösen die Ausschüttung von zwei Hormonen aus: Oxytocin und Prolaktin. Während Prolaktin die Milchbildung anregt, sorgt Oxytocin für den Milchfluss. Letzteres kann durch Schmerzen und emotionalen Stress beeinflusst werden und dafür sorgen, dass keine Milch mehr produziert wird. Vor allem in Kriegs- und Krisensituationen ist das immer wieder zu beobachten 1.
Nachweislich hat das Stillen viele positive Effekte. Zum einen kann es die emotionale Bindung zueinander stärken und beruhigend wirken – auf das Kind sowie die stillende Person. Auch in den Tagen, an denen sich Eltern durch das Stillen weniger mit Infektionskrankheiten herumschlagen müssen, stecken vermutlich Momente der Ruhe.

Die Gesellschaft an der Brust
Doch wer mehrere Stunden am Tag stillt, erfährt nicht unbedingt (nur) Glücksmomente. Denn so individuell stillende Körper und Erfahrungen auch sein können, so kollektiv sind auch die gesellschaftlichen Erwartungen, die an sie gestellt werden. Da gibt es den Druck, unbedingt zu stillen – oder es nicht zu tun. Zumindest nicht zu lange, um schnell wieder voll berufstätig zu sein oder sich öffentlich keinen sexualisierenden, verwunderten Blicken aussetzen zu müssen. Doch auch der Druck, dass alles ganz einfach klappen muss oder sich sogar noch gut anfühlt – all das beschäftigt die stillenden Personen, die ich treffe. Und dabei sind Personen, die aus unterschiedlichen Gründen nicht stillen können und wollen, noch nicht einmal mit einbezogen.
Klar ist: Die Lebensrealitäten stillender Menschen sind vielfältig und das auch abseits heteronormativer Vorstellungen. Denn viele der biochemischen Prozesse können heute auch durch sogenannte „induzierte Laktation“ imitiert werden. Dabei wird zunächst eine Schwangerschaft durch die Einnahme verschiedener Hormone – darunter auch Oxytocin und Prolaktin – simuliert und durch Abpumpen und Stimulation der Brustwarzen die Milchbildung angeregt2. Das ermöglicht besonders trans* Frauen, nicht-binären und intergeschlechtlichen Personen, Kinder zu stillen.

Nächste Haltestelle: „Frauenlobstraße“
Doch egal, wer stillt – eine Frage bleibt: Wer kann sich das Stillen leisten? Gerade, wenn die WHO aktuell empfiehlt, es ganze zwei Jahre zu tun – wenn auch nur als Beikost. Solange Stillen an Körper gekoppelt bleibt, die Milch produzieren können, lässt es sich in den meisten Elternkonstellationen aktuell nur schwer gerecht aufteilen. Außerdem hängt dem Patriarchat bekannterweise viel daran, Stillen nicht als Arbeit zu werten, es auf Lob zu reduzieren oder den Aufwand, der mit ihm verbunden ist, so „still“ wie möglich zu halten.
Während die Frage nach der Entlohnung von reproduktiver Arbeit immer wieder von Feminist*innen diskutiert wurde, steht heute beim Thema Stillen noch immer die Frage nach gleichberechtigter Elternschaft und körperlicher Selbstbestimmung im Mittelpunkt. Das beschreibt auch Britta Fuchs in ihrem Buch „Unstillbar“3. Damit macht sie deutlich: Veränderung bleibt zwar ein langsamer Prozess, doch zumindest die gesellschaftliche Stille, die das Stillen als natürlichen, einfachen und allein weiblich besetzten Prozess normalisiert und romantisiert, lässt sich immer wieder durchbrechen.
