Die Bologna-Konferenz sucht nach Wegen aus der Reformbaustelle. Wie es mit dem Masterzugang weitergeht, weiß Ministerin Schavan genau. Die entscheidenden Fragen sind aber ganz andere, findet Hendrik Pauli.
Ein dickes politisches Brett zu bohren dürfte zu allen Zeiten eine große Herausforderung gewesen sein. Es ist aber ein Phänomen neuerer Zeit, dass praktisch kaum ein Großprojekt ohne außerparlamentarisches Vermittlungsorgan auskommt. Und damit ist nicht der nutzbringende Interessenaustausch im Vorfeld einer Entscheidung gemeint, sondern die Schadensbegrenzung im Nachhinein: kein neuer Bahnhof ohne Schlichtungsverfahren, kein neuer Atomausstieg ohne Ethikkommission.
Die jährliche Bologna-Konferenz mit Vertretern von Politik, Hochschulen und Studierenden, die in Berlin am vergangenen Freitag zum zweiten Mal tagte, gehört in diese Kategorie. Bundesbildungsministerin Annette Schavan gab dort die sanftmütige Supernanny für eine Reform, die laut Deutschem Hochschulverband politisch vermurkst wurde. Die Zahlen der Ministerin – wen wundert’s – sprechen eine andere Sprache: Nicht wie geplant 90.000, sondern gar 180.000 Studienplätze habe man in den letzten fünf Jahren geschaffen; in den nächsten fünf Jahren kämen 335.000 statt den ursprünglich geplanten 275.000 dazu.
Bei wem es mit dem Glauben an das deutsche Bildungsparadies trotzdem noch hapern sollte, für den hat die Theologieprofessorin Schavan weitere statistische Denkanstöße parat. Der Anteil an Studienanfängern pro Jahrgang sei gestiegen, von einem Drittel auf knapp die Hälfte jedes Jahrgangs; und beim Übergang vom Bachelor zum Master, um den es bei der Konferenz in erster Linie ging, sei sowieso alles bestens. Nur 20% der Masterplätze seien überhaupt mit einem Numerus clausus belegt. Wer wolle, der könne auch einen Master machen; wenn nicht in Berlin, dann sicher in Schmalkalden, Coburg oder Worms.
Nun darf man kaum annehmen, dass der Bachelorabsolvent aus Berlin für mehr Masterplätze in der Provinz kämpft. Aber der disziplinierend gemeinte Hinweis an die Studierenden zu mehr Flexibilität ist reine Verlegenheit. Man kennt das von der Arbeitsmarkt-Debatte. Wer in Rostock oder Magdeburg keine Job findet, der packe halt Kind und Kegel und versuche sein Glück in Bayern. Ende der Diskussion. Nach dieser Angebot-Nachfrage-Logik ist für Annette Schavan auch klar: die gestiegene Quote der Studienanfänger ist ein Zeichen für die Lust aufs Studium. Aber von was für einem Studium redet sie dabei?
Wenn Bologna schon als größter Umbruch des Bildungswesens nach dem Krieg beschworen wird, dann sollte man sich im zwölften Jahr der Reform vielleicht endlich darüber klarwerden, was man unter diesem seltsam schillernden Begriff „Studium“ noch zu verstehen hat. Was dürfen die Studierenden von einer akademischen Ausbildung erwarten? Was darf die Gemeinschaft von ihrem akademischen Nachwuchs erwarten?
Wer mehr Studienplätze schafft, wer Studiengänge immer weiter differenziert, wer wie Schavan berufsbegleitende Masterprogramme mit 250 Millionen Euro fördern will, der fördert auch die Differenzierung von Bildungskarrieren. Will ich ein schnelles, ergebnisorientiertes Studium als Karrieresprungbrett? Will ich ein Studium um Lebenserfahrung zu sammeln und einen Hochschulabschluss nebenbei? Oder will ich ungehemmt meinen Wissensdurst stillen dürfen und mir höhere akademische Meriten verdienen, und zwar als Freigeist und nicht als Fachidiot? Das sind nur einige von unüberschaubar vielen, individuellen Studienentwürfen. Trotzdem: So wie sich das Bachelorstudium im Moment darstellt, ist es ein akademischer Durchlauferhitzer, der keine Zeit lässt, um persönlich und intellektuell zu reifen. Diese Ansicht teilen übrigens auch immer mehr Personalchefs.
Dass es den bildungsbeflissenen Deutschen schwer fällt, sich vom Humboldt’sche Ideal des universalbildenden Studiums zu emanzipieren, ist verständlich. Aber mit Bologna ist den Studierenden endgültig die Bürde genommen, sich als Bildungselite fühlen zu müssen. Jeden, der in der Universität eine intellektuelle Veredelungsanstalt sieht, wird dabei ein mulmiges Gefühl beschleichen, erst recht mit Blick auf die aufstrebenden asiatischen Bildungsexporteure.
Wem aber Mittelmaß zu wenig ist, der sollte eines nicht tun: auf die vertrauen, die regelmäßig die Bildungsrepublik Deutschland ausrufen, und auch nicht auf studentische Bildungsstreiker, denen es zu allererst darum geht, ihre eigenen Bildungskarrieren zu retten, aber gewiss nicht das deutsche Hochschulwesen.