„Niemand hat moralisch eine weiße Weste“

Strafrechtler Gerhard Seher beschäftigt sich täglich damit, wer schuldig ist und wer nicht. Wie sich Schuld dagegen anfühlt, erforscht die Philosophin Hilge Landweer. Ein Gespräch über die Facetten der Schuld. Von Melanie Böff

Gerhard Seher (l.) und Hilge Landweer zeigen, wie facettenreich die Schuld ist. Foto: Christoph Spiegel

Gerhard Seher (l.) und Hilge Landweer diskutieren, welche Facetten die Schuld haben kann. Foto: Christoph Spiegel

FURIOS: Laut einer Studie an der Universität Erlangen fordert ein Drittel der dortigen Jurastudenten die Todesstrafe zurück, die Hälfte findet Folter teilweise angemessen. Das passt nicht so recht zum liberalen und humanistischen Image der Studenten. Hat sich unser Schuldverständnis geändert?

Hilge Landweer: Das Schuldverständnis hängt davon ab, welche Vorstellungen von Vergeltung in einer Gesellschaft akzeptiert werden. In dieser Hinsicht lässt sich derzeit beobachten, dass der Ton schärfer wird, weil sich auch auf internationaler Ebene die Verbrechen geändert haben – Terrorismus, Folter und demütigende Darstellungen in Videos. Solche Taten rufen Empörung hervor. Wie alle Menschen, reagieren auch Studierende da emotional.

Gerhard Seher: Genau. Das sind impulsive Reaktionen auf einzelne, besonders scheußliche Straftaten. Denn der Sinn für die Angemessenheit von Bestrafungen hängt auch immer ab von den Erfahrungen und Erlebnissen der jeweiligen Generationen. Die Todesstrafe nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs abzuschaffen, ging schnell. Je länger diese Erfahrung aber zurück liegt, desto offener gehen viele wieder mit dieser Frage um. Natürlich gibt es leider auch „Vorbilder“.

Landweer: Ja, die USA.

Inwiefern?

Seher: Laut einer Studie sind vier Prozent der Todesurteile in den USA Fehlurteile. Das sollte eigentlich abschrecken. In Bezug auf die Todesstrafe sind die Amerikaner also eher ein schlechtes Vorbild.

Landweer: Da haben Sie eine große Verantwortung, Ihren Studierenden andere Vorbilder zu geben als die USA.

Seher: Es ist tatsächlich eine Schwierigkeit im Jurastudium, dass das Sanktionenrecht nur nebenher gelehrt wird. Die Studierenden müssen es extra wählen. Was es also im Einzelfall bedeutet, eine Todesstrafe zu verhängen und zu vollstrecken – darüber macht sich ein Jurastudent nur wenig Gedanken.

Warum verstehen wir unter Schuld offenbar alle etwas anderes?

Seher: Schuld ist nicht etwas Objektives, sondern ein Werturteil. In jedem Einzelfall muss das mit dem Ziel der Angemessenheit über die Täter verhängt werden.

Landweer: Es gibt aber zwei unterschiedliche Arten von Schuld. Die eine wird in rechtlichen Verfahren überprüft und hergestellt. Die moralische Schuld muss ich dagegen mit meinem individuellen Gewissen vereinbaren. In der Sache gibt es aber viele Überschneidungen bei rechtlichen und moralischen Verstößen. In beiden Fällen können wir die gleichen Gefühle haben: Schuld, Scham, Empörung, Zorn. Das sind neben der Achtung die wichtigsten moralischen Gefühle aus meiner Sicht.

Wo liegt der Unterschied zwischen Schuld und Scham?

Landweer: Wer sich schämt, möchte am liebsten im Boden versinken. Dies zeigt, dass die Scham plötzlich kommt und es aus der Situation kein Entrinnen gibt. Das ist das Entsetzliche an der Scham. Schuld fühlt sich dagegen bohrend an, sie nagt dauerhaft. Während sich Scham auf das eigene Scheitern an einer Norm bezieht, richten sich Schuldgefühle eher auf den anderen, gegenüber dem man schuldig geworden ist. An dieser Stelle setzt der Impuls zur Wiedergutmachung beim Täter ein. Es gibt fatale Fälle, in denen dies aber nicht möglich ist und auch keine Verzeihung erlangt werden kann. Genau dann bleibt das Schuldgefühl weiter bestehen.

Das scheint besonders dann zuzutreffen, wenn die Taten lange zurückliegen und ganze Gesellschaften betreffen. Hierzulande wird das Thema Schuld immer wieder diskutiert. Tragen wir Deutsche eine historische Schuld?

Landweer: Es ist sinnlos, dass wir heute deswegen Schuldgefühle haben. Es kommt vielmehr darauf an, dass wir die Erinnerung wach halten und uns zu fragen, wie wir uns in einer vergleichbaren Situation verhalten würden.

Seher: Wir sind diejenigen, die noch nah an diesen Erfahrungen sind und die dafür sorgen können, dass den folgenden Generationen eingefleischt wird, was passieren kann und was nicht passieren darf. Das hat eher etwas mit kollektiver Verantwortlichkeit zu tun. Aber Schuld? Nein!

Vielen Studierenden sind Nachhaltigkeit und Fairness wichtig. Sie wollen die Ausbeutung von Textilarbeitern nicht unterstützen. Aus finanziellen Gründen kaufen viele aber trotzdem solche Kleidung und fühlen sich deshalb schuldig.

Seher: Ich weiß gar nicht, warum es hier um Schuld gehen sollte. Die Komplexität der Welt ist zu groß, um das richtige Handeln in solchen Fällen klar sehen zu können.

Landweer: Die Schuld von Studenten, die wenig Geld haben und deshalb als Konsumenten auf solche Waren zurückgreift, finde ich moralisch nicht besonders schlimm. Niemand hat moralisch eine vollkommen weiße Weste. Das heißt nicht, dass man mit seinen moralischen Bemühungen aufhören sollte. Die müssten hier aber eher zu politischer Tätigkeit führen. Treibt einen nur die Privilegienschuld an, finde ich das problematisch.

Privilegienschuld?

Landweer: Privilegienschuld ist die Schuld eines gut situierten weißen Mittelständlers, die wissen, dass sie auf Kosten der Dritten Welt leben. Es ist rational, an diesen Verhältnissen politisch zu arbeiten, aber es ist irrational, sich ständig für alles schuldig zu fühlen. Natürlich ist niemand allein verantwortlich für die Ausbeutung der Dritten Welt.

Die Rädchen halten wir durch den Kauf solcher Produkte aber trotzdem am Laufen. Arrangieren wir uns also mit einer indirekten Schuld an solchen Verhältnissen?

Seher: Noch einmal: Ist das Schuld oder doch eher ein schlechtes Gewissen? Schuld hat, wer etwas falsch gemacht hat. So wie Sie aber die Situation beschreiben, handelt es sich um schlechtes Gewissen. Da ist die Frage, wie sehr es uns belastet.

Landweer: Es wäre etwas anderes, wenn man bei einer Firma arbeiten würde, die Kleidung aus solch ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen bezieht. Nicht nur als studentische Aushilfe, sondern länger. Das wäre dann eher ein Problem. Die Frage lautet: Wie viel Freiheitsspielraum hat wer in welcher Situation? Dafür kann man keine allgemeinen Regeln aufstellen, das muss von Fall zu Fall sich ansehen.

Also, müssen wir uns mit diesen Verhältnissen abfinden, weil die Welt zu kompliziert ist?

Seher: Tatsächlich ist es in manchen Fällen einfach. Wer Massentierhaltung nicht unterstützen will, kauft eben keine Billighähnchen mehr. Aber gerade die angesprochenen wirtschaftlichen Verflechtungen der Textilbranche sind so komplex, dass man gar nicht sicher wissen kann, wie man sich richtig verhalten soll. Wer sich davon zu sehr runter ziehen lässt, verbessert weder die Welt noch sein kurzes Leben .

Autor*in

FURIOS Redaktion

Unabhängiges studentisches Campusmagazin an der FU seit 2008

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