FURIOS liest: Geklebte Gedichte

Mit ihren bunten Collagen hat Herta Müller in ihrem Werk „Vater telefoniert mit den Fliegen” eine neuen Zugang zur zeitgenössischen Lyrik gefunden. Für FURIOS hat Carla Hegerl versucht, die Wortfetzen zu ordnen.

DIe Gedichte in "Vater telefoniert mit den Vögeln" schaffen es, verspielt zu sein ohne oberflächlich zu bleiben

DIe Gedichte in “Vater telefoniert mit den Vögeln” schaffen es, verspielt zu sein ohne oberflächlich zu bleiben

Nimm eine Zeitung und eine Schere. Schneide einen Artikel deiner Wahl auseinander und schmeiß die Schnipsel in eine Tüte. Schüttle alles einmal gut durch und setz es zu einem Text zusammen: fertig ist das Dada-Gedicht nach Tristan Tzaras Bastelanleitung von 1920. Das ist nun schon eine Weile her und trotzdem liegt es nahe erst mal so weit zurückzugehen, wenn man Herta Müllers Collagen-Band “Vater telefoniert mit den Fliegen” beschreiben will.

Und zwar nicht nur weil die Nobelpreisträgerin und der Dadaist beide aus Rumänien stammen. Was einem von den Seiten des Buches entgegenspringt sind flächige, bunte Wortschnipsel, die aussehen als hätte sie jemand aus einer Tüte genommen und aus großer Höhe auf weißes Papier gestreut: Ein wildes Durcheinander von Farben und Typographien, irgendwie Wortsalat. So das Gefühl, bis man anfängt zu lesen.

“Eine Art gesteigerter Schnurrbart”

Dann funkt es auf einmal zwischen den Schnipseln. Man liest von der Nacht, die einer “Hündin das Pfeifen von Liedern” beibringt, von Gefühlen, die wie “Pfirsiche hin und her rollen”; von den “Sandalen des Asphalts” und dem “Hüftschwung der Katze”. Von “Wolken auf Fischfang”, vom bellenden Wind und “Kartoffeln mit Ohren”. Das Ergebnis dieser Wortakrobatik ist eine in sich schlüssige, surreale Welt, ein Abbild von “Gegenwart im Zeitverzug”, das einem ständig etwas Unverständliches zuflüstert, wie “eine Art gesteigerter Schnurrbart”.

Die Texte werden dabei oft durch ein humorvolles Augenzwinkern zusammengehalten oder durch einen unerwarteten Reim, fast wie Kinderlieder. An anderer Stelle trifft man plötzlich auf Polizisten “mit Kaviar im Blick” oder “Militärorchester in den Bäumen” und streift durch “koffergroße” Dörfer. Es ist Müllers Jugend in einem rumänischen Dorf zu Zeiten von Ceaușescu und Securitate, die hier durchscheint und auf einmal sind die einfachsten Worte Spiegel von Flucht und Exil. Die Collagen erhalten dadurch eine dunklere, politische Dimension, verbunden mit persönlichen Erfahrungen, die in fast unheimlicher Weise zum aktuellen Geschehen passt.

Jedes Wort ein Pixel

Aber trotz dieser untergründig mitschwingenden Thematik behalten die Gedichte fast immer ihre spielerische Leichtigkeit und die äußere Form ist hier wahrscheinlich ein wichtiger Faktor. Denn jedes der Gedichte ist ein präzise komponiertes Kleinkunstwerk, das man nicht nur lesen, sondern auch wie ein Bild anschauen kann: jedes Wort ein Pixel. Es ist leicht beim Lesen in mehr oder weniger wirre Gedanken zur Bildlichkeit von Schrift und zur intermedialen Ästhetik von Zeitungspapier-Lyrik abdriften. Ist das jetzt ein Gedicht oder ein Foto von einem Gedicht?

“Vater telefoniert mit den Vögeln” ist also nicht einfach ein Sammelband von Zufallsgedichten á la Dada. Meist surreal und auch bizarr, aber keineswegs sinnfrei. Denn diese Gedichte schaffen es, verspielt zu sein ohne oberflächlich zu bleiben. Herta Müller fasste es selbst am besten zusammen: “Wörter können und dürfen alles.”

Anspruch: 4/5
Spannung/Kreativität: 5/5
Erotik: 0/5
Action: 1/5

Bester Satz: “Gott reparierte / einer Fliege den Pelz / einer Kirsche den Stein / mich ließ er sein.”

Vater telefoniert mit den Fliegen
Autorin: Herta Müller
Verlag: Fischer Taschenbuch

Preis: 10,99 Euro

Autor*in

FURIOS Redaktion

Unabhängiges studentisches Campusmagazin an der FU seit 2008

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