Chios: Ein Monat Außengrenze

Mit Flucht ist Hoffnung verbunden. Auf der griechischen Insel Chios entfaltet sich jedoch eine Realität aus Gewalt, Angst und Überforderung. Ein Erlebnisbericht von Lucie Hortmann und Marius Mestermann.

Illustration: Manon Scharstein
Illustration: Manon Scharstein

Türkisfarbenes Wasser umschmeichelt die Küsten von Chios. Die Insel in der Ägäis, die dem türkischen Festland viel näher ist als dem griechischen, ist ein Idyll. Viele Europäer*innen kommen hierher, um ihre Alltagssorgen zu vergessen. Sie zahlen hunderte Euro für Flüge, Unterkunft und schöne Abende bei griechischem Wein mit Meerblick. Bezahlen lässt es sich auf Chios problemlos in Euro, denn die Insel gehört zum EU-Mitgliedsstaat Griechenland. Was klingt wie eine Kleinigkeit, ist eines von vielen Symbolen europäischer Zugehörigkeit. Denn wenige Kilometer weiter östlich, an den Häfen der türkischen Küste, beginnt eine andere Welt. Neu ist diese Unterscheidung nicht – die Rivalität zwischen Griechenland und der Türkei ist Jahrhunderte alt. Doch die Seegrenze ist auch die inzwischen berüchtigte EU-Außengrenze.

Ein Schlauchboot legt an.

Menschen retten sich an Land. Einige tragen Schwimmwesten. Wenn sie Glück haben, gibt es Helfer, die sie an den Händen nehmen und aus dem Boot ziehen. Für die meisten dieser Menschen ist es ein Ankommen, das mit Hoffnung, vielleicht Erleichterung, aber auch Angst verbunden ist. Zukunftsangst.

Nicht nur von Europa aus kommt man nach Chios. Auch aus Syrien oder dem Irak, über das Transitland Türkei. Auch diese Menschen, die vor Tod und Zerstörung geflohen sind, haben oft viel Geld gezahlt. Aber nicht an Airlines, Hotel-Booking-Webseiten und Taxifahrer. Sondern an Schleuser, die versprachen, sie auf europäischen Boden zu bringen.

Sie leben in provisorischen Unterkünften wie dem Camp Vial. Dort halten sich zurzeit etwa 1200 Geflüchtete auf. Vial wird vom griechischen Militär geleitet, Zutritt hat nur das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, UNHCR. Anders sieht es in Camp Suda aus, das 900 Bewohner*innen zählt. Ich war dort, um zu helfen, und erlebte das Versagen der europäischen Migrationspolitik.

Die Formalitäten sind schnell erzählt: Ich heiße Lucie, studiere im sechsten Semester an der FU und habe in den letzten Semesterferien einen Monat im Rahmen eines Freiwilligendienstes über das „Center for Excellence in Surgical Education Research and Training“ (CESERT) auf Chios verbracht. Die Lebensbedingungen im Camp sind, nett ausgedrückt, unterdurchschnittlich. Wohncontainer sind die Ausnahme, nicht klimatisierte Zelte der Standard. Warum so viele Europäer*innen nach Chios kommen? Weil es da im Sommer schön sonnig und warm ist. Aber lebt mal mit 900 anderen Menschen in solchen Zelten. Genau.

Im Winter geht es noch. Dicke Kleidung und Decken helfen, warmes Wasser gibt es nicht. Dadurch ändert sich aber nichts an den miserablen sanitären Bedingungen. Zehn Toiletten gibt es für 900 Bewohner des Camps. Etwa die Hälfte funktioniert in aller Regel nicht.

Doch die größte Katastrophe ist der gravierende Mangel an Sicherheit. Und er trifft ausgerechnet jene, die in der Hoffnung gen Europa aufgebrochen sind, um der Gewalt und Unsicherheit in ihren Heimatländern zu entkommen. Denn über die sogenannte östliche Mittelmeerroute kommen vor allem Geflüchtete aus dem Nahen Osten.

Ein Mann, den ich während meiner Zeit in Camp Suda recht gut kennenlernte, verbrachte einmal eine ganze Nacht an der Seite des einzigen Wachmanns in seiner Nähe. Er fürchtete eine Messerattacke.

Das Beispiel zeigt, wie heillos überfordert die griechischen Sicherheitskräfte mit der Aufgabe sind, in den Camps für Ordnung zu sorgen. Die Polizei ist weder ausreichend ausgestattet, noch verfügen die meisten Beamten über die nötige Ausbildung. Immer wieder kommt es zu regelrechten Ausschreitungen zwischen verschiedenen Gruppen im Camp, oft enden diese für einige Beteiligte im Krankenhaus. Gründe für die Auseinandersetzungen gibt es viele. Mal sind es Konflikte zwischen Nationalitäten, oft aber auch der Frust über die schlechten Lebensbedingungen im Camp oder über die Langwierigkeit der Asylverfahren. Nur selten gelingt es der Polizei, die wahren Täter*innen zu ermitteln. Geflüchtete berichten mir, dass die Beamt*innen dazu tendieren, Menschen einer bestimmten Nationalität für die Vorfälle verantwortlich zu machen. Das kann ernste Konsequenzen haben, etwa lange Haftstrafen und Nachteile für die Asylbewerbung – unabhängig davon, ob die Personen wirklich für den Konflikt verantwortlich waren.

Ein Mal zündete sich ein Geflüchteter an, weil sein Asylantrag zum zweiten Mal abgelehnt wurde. Beim Versuch eines Polizisten, ihm das Feuerzeug zu entreißen, gingen beide in Flammen auf. Die Umstehenden, darunter viele Kinder, mussten das schreckliche Ereignis mit ansehen. Wenige Tage später erlag der Geflüchtete seinen Verletzungen. Ich sah von der Situation lediglich ein Video, doch auch das war grausam und kaum auszuhalten. Auch andere Camp-Bewohner*innen tun sich schreckliche Dinge an, weil sie hoffen, mit schweren Verletzungen schneller nach Athen zu gelangen und ihre Asylanträge dort schneller bearbeitet werden.

Auf Chios traf ich viele Menschen, die aufgrund ihres extrem hohen Gewaltpotentials eigentlich sofort psychologische Betreuung bräuchten. Doch die bleibt aus. Stattdessen behalf sich ein Bewohner damit, seinem Zimmergenossen nachts die Schnürsenkel zusammenzubinden, damit dieser nicht unbemerkt aufsehen konnte. Während ich in Camp Suda bin, versucht der Mann, jemanden mit einem Messer umzubringen. Wenn er in der Nähe war, flüsterten die Kinder voller Angst seinen Namen.

Camp Suda ist in der Vergangenheit aber nicht nur Schauplatz interner Konflikte gewesen. Faschistische Aktivist*innen zerstörten ein großes Zelt für dutzende Menschen und werfen Steine. Auch Camp-Bewohner*innen wurden verletzt. Viele Griechen fühlen sich von den anderen EU-Ländern alleingelassen. Athen fordert mehr Unterstützung, die es jedoch nie bekommt. Einem Staat wie Griechenland mit hohen Arbeitslosenquoten und starken finanziellen Problemen lastet eine Aufgabe wie die Integration tausender Geflüchteter besonders schwer auf den Schultern. Für die über 2000 Geflüchteten auf Chios gibt es zwei (!) Sachbearbeiter.

Was schlimm klingt, wird von der Situation in der Türkei, die nur wenige Kilometer entfernt liegt, noch unterboten. Ein Geflüchteter erzählt mir, dass dort dem Sterben von Haustieren mancherorts mehr Bedeutung zugemessen wird als dem von Geflüchteten. Die türkische Küstenwache fahre absichtlich nahe an die Boote, um Wellen zu erzeugen und die Migrant*innen dazu zu zwingen, sich auf ihre Schiffe zu retten. Ein anderer Freiwilliger berichtet mir, wie er beobachtete, dass mit Gummischrot auf die Boote geschossen wurde, um sie zum Kentern zu bringen. Gummischrot zur Umsetzung des EU-Türkei-Deals, so stellt man sich Migrationspolitik sicher nicht vor, und auch nicht das ehemalige Idyll in der Ägäis.

Autor*in

FURIOS Redaktion

Unabhängiges studentisches Campusmagazin an der FU seit 2008

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