Der Student Jonas Sjödin wuchs in Piteå auf, einem schwedischen Dorf 200 Kilometer entfernt vom nördlichen Polarkreis. Mit Corinna Cerruti sprach er über schwedische Zurückhaltung, Willkommenskultur und Vorurteile.
In unserer Ferienserie „FURIOS versteht“ widmen sich unsere Autor*innen Menschen, deren Leben so ganz anders ist als das ihre und die sie schon immer einmal verstehen wollten.
In acht von zwölf Monaten liegt in Piteå Schnee. Die Durchschnittstemperatur in den Wintermonaten beträgt -15 Grad. Sommertage sind dafür in fast 24 Stunden Tageslicht gehüllt. Jonas Sjödin ist in einer Region groß geworden, die das Herz jedes Instahipsters höher schlagen lässt: Tiefe einsame Wälder, zugefrorene Seen und Schneehügel so weit das Auge reicht.
Für sein Informatikstudium zog es Jonas in das nahe gelegene Umeå, der größten Stadt Nordschwedens. Über das Attribut „groß“ können Berliner Studierende allerdings nur schmunzeln: Umeå zählt gerade mal 125.000 Einwohner – ein Drittel davon Studierende. Für Jonas allerdings genau richtig: „In Großstädten wie Stockholm oder Berlin muss alles viel schneller passieren.“ Mit der Hektik könne er nichts anfangen, vielmehr schätze er das ruhige Leben und den engen Kontakt zwischen den Menschen einer Kleinstadt.
Übertriebene Höflichkeit
Neben all der Harmonie hat Jonas auch kritische Worte für sein Heimatland übrig. Dem Vorurteil des zurückhaltenden Skandinaviers könne er beispielsweise nicht gänzlich widersprechen: „Besonders im Norden Schwedens sind die Menschen nicht unbedingt gesprächig.“ Wer neu in die Region zieht, habe es unter Umständen schwer, mit Einheimischen in Kontakt zu kommen. „Zugezogenen treten wir natürlich freundlich gegenüber, aber auch erstmal distanziert”, gibt der 20-jährige Student zu. Den Schwed*innen sei es wichtig, höflich und aufmerksam zu sein. „Die meisten Menschen wollen jedoch nicht unbedingt neue Verbindungen aufbauen”, sagt Jonas.
Diese Zurückhaltung spiegelt sich auch im öffentlichen Diskurs wider: „Unser Hang zur übertriebenen Höflichkeit hat sich zu einer festen sozialen Norm entwickelt. Menschen äußern nicht mehr unbedingt ihre Gedanken, sondern nur das, was sozial akzeptabel erscheint.“ So kritisiert Jonas die Einseitigkeit politischer Debatten im Land. „Bei sensiblen Themen wie Migration gibt es kaum Diskurs“, erklärt der Student.
Während der Flüchtlingskrise hatte Schweden in Relation zur Bevölkerungszahl zeitweise die meisten Geflüchteten in der EU aufgenommen. Jonas glaubt, die Regierung habe versäumt, daran anzuschließen: „Wir klopfen uns auf die Schulter und loben uns dafür, richtig gehandelt zu haben. Aber dann pferchen wir Migrant*innen in Ghettos wie in Malmö zusammen und kümmern uns nicht mehr darum. Das ist nicht richtig.“ Die südlichste Großstadt Schwedens sorgt aufgrund von zunehmender Armut und Kriminalität immer wieder für Schlagzeilen.
Nicht nur schön reden
Jonas findet, die Schwed*innen müssten bei der Auseinandersetzung mit Geflüchteten umdenken: „Wir haben die Debatte darum so lange vermieden, weil niemand etwas Falsches sagen wollte.“ Dies fördere jedoch nur die populistischen Parteien, die auch bei der diesjährigen Parlamentswahl weiter auf Zuspruch hoffen können.
Ob Jonas trotz dieser Schwierigkeiten weiter in Schweden leben möchte? „Selbstverständlich! Das ist ein tolles Land mit großzügigem Wohlfahrtsstaat und vielen Jobmöglichkeiten. Ich denke, jede Nation hat mit derartigen Problemen zu kämpfen“, betont er. Wichtig sei nur, die Welt nicht immer nur schön zu reden.