Testosteron zum Aufsetzen

Was die Berliner Szene im Holzfällerlager zu suchen hat. Über einen Hut zum Bäume ausreißen.

Illustration: Julia Schönheit

Zwei Urgewalten treiben derzeit ihr Unwesen in der Berliner Modeszene: Kälte und die Angst vorm Nicht-beachtet-werden. Darunter glaubt der Dahlemer Hipsterstudent noch mehr zu leiden, als seine Grosseltern unter dem Krieg. Doch Rettung naht! Die Holzfällermütze wärmt und ist auf dem Kopf eines 20-Jährigen in der Regel ein echter Hingucker. Und kommt auf jedem Facebook-Partyfoto saugut.

So weit die lebenspraktischen Aspekte des Kleidungsstücks. Aber ist das kann nicht alles sein. Besonders dann nicht, wenn der Träger in hauchdünnen Converse-Turnschuhen durch den Schnee stapft. Auch um ein Aufmerksamkeitsdefizit zu kompensieren sind dem Berliner Hipster bislang schon bessere Dinge eingefallen als etwas, das die Frisur zerstört und taub macht.

Wahrscheinlich gibt es die Holzfällermütze schon so lange wie den sibirischen Winter. Beziehungsweise seitdem in Sibirien zum ersten Mal eine Fichte gefällt wurde. Seither hat sich die Gestalt der Testosteronkappe so oft geändert wie der Name von St. Petersburg, a.k.a. Petrograd, a.k.a. Leningrad, a.k.a. letzte Tankstelle vor Russland. Welcher französische Kutscher im 18. Jahrhundert in eine Midlife Crisis stürzte und das «Kabriolett» – die offenen Kutsche – erfand, konnte nicht in Erfahrung gebracht werden. Für die Holzfällermütze bedeutete das die Umfunktionierung zur Cabriohaube, aus Pelz wurde Leder. So schützte sich auch Otto Lilienthal bei seinem ersten Flugversuch vor Wind und skeptischen Blicken seiner Zeitgenossen mit eben dieser Haube. Seither heisst sie Fliegermütze. Zur Kamikazemütze wurde sie schliesslich, als japanische «Selbstopferpiloten» mit ihr in amerikanischen Kriegsschiffe stürzten.

Wie alle Jungsphänomene hat also auch das Tragen der Holzfällermütze mit Flugzeugen zu tun. Sie steht für Temporausch. Wer sie aufsetzt, der fühlt sich nicht nur imstande, sibirische Fichten zu fällen, sondern auch amerikanische Fregatten zu versenken oder sogar mit offenem Verdeck über die Hügel der märkischen Schweiz zu fahren. Selbst eine Fahrt mit der U3 nach Dahlem Dorf wird mit ihr zum kleinen Sturzflug, angesiedelt irgendwo zwischen einer Cabriofahrt in Richtung Midlife Crisis und Kamikaze.

Auch die Frauen stehen in diesem Winter auf Testosteron. Sie haben den Holzfällerhelm für sich entdeckt und machen damit auf Boyfriend-Style: Die Frau versinkt in viel zu großen Klamotten und wird wieder zum unschuldigen Püppchen. Alles nur Masche. In Wirklichkeit wollen sie den Jungs nur ihr Spielzeug wegnehmen. Aber warum der ganze Zank? Zusammen machen Cabriofahrt und Sturzflug doch sowieso am meisten Spaß!
(fis)

Autor*in

FURIOS Redaktion

Unabhängiges studentisches Campusmagazin an der FU seit 2008

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1 Response

  1. 24. Januar 2011

    […] Kul­tur Tat­waffe Wolle: Womit man heute Stree­tar macht Fla­neur: Stille Erleich­te­rung Warn­fe­tisch: Tes­to­ste­ron zum Aufestzen […]

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