Der Tod ist für viele ein Tabuthema. Nicht für die Studentinnen Ute und Lie. Als ehrenamtliche Sterbebegleiterinnen begegnen sie ihm jede Woche – ohne das Lachen zu verlernen. Von Friederike Oertel
„Das könnte ich nicht“, ist oft das erste, was die beiden Studentinnen Ute und Lie hören, wenn sie von ihrem Ehrenamt erzählen. „Das muss doch total deprimierend sein“, folgt dann schnell. Als ehrenamtliche Sterbebegleiter verbringen Lie und Ute einen Nachmittag in der Woche mit todkranken Menschen. Engagement unter Studenten ist keine Seltenheit: Die einen leiten die Jugendgruppe der Pfadfinder, die anderen geben Nachhilfe oder sind in der Fachschaft aktiv. Mit dem Tod setzen sich die meisten jedoch erst dann auseinander, wenn es sie persönlich betrifft. Das Thema ist nach wie vor tabu. Was bewegt junge Menschen also dazu, ihm jede Woche freiwillig zu begegnen?
Mit Anfang und Ende 30 sind Lie und Ute tatsächlich die jüngsten Ehrenamtlichen, die im Hospiz Schöneberg-Steglitz als Sterbebegleiter tätig sind. „Der Altersdurchschnitt liegt bei etwa 55 Jahren“, erklärt Hospizkoordinatorin Carmen Dietrich. Das Amt erfordere eine gewisse Verbindlichkeit, die in der Studienzeit oft nicht gewährleistet sei. Spontane Auslandsaufenthalte oder Wohnortwechsel sind mit der Arbeit nur schwer vereinbar.
Lie und Ute aber stecken noch mitten in ihrer Ausbildung: Lie studiert Geschichte an der FU. Ute ist in der Schlussphase ihres Literaturstudiums und hat jetzt eine berufsbegleitende Ausbildung zur Erzieherin begonnen. Obwohl sie sich noch in den Lehrjahren befinden, stehen die Studentinnen schon fest im Leben. Ihre innere Stabilität war wesentliche Voraussetzung für eine aktive Annäherung an das Thema Sterben: „Irgendwann kam ein Moment in meinem Leben, da ging es mir gut, in mir war Ruhe eingekehrt und ich hatte Kapazitäten, die ich nutzen wollte. Als ich in mich hineingehört habe, wo meine Stärken liegen, habe ich gemerkt, dass mir der Tod keine Angst macht“, erzählt Lie in unbeschwertem Plauderton. „Dann habe ich erstmal gegoogelt. Und so ist das Ding ins Rollen gekommen“, erinnert sie sich.
Bei Ute war es ähnlich: In rasantem Sprechtempo und mit vielen Worten erklärt sie, dass das Sterben unweigerlich zum Leben gehöre – die Vergänglichkeit mache es schließlich einzigartig. Den letzten Abschnitt des Lebens wollen die meisten Menschen zu Hause in vertrauter Umgebung verbringen. Die Realität sieht jedoch anders aus: Ein Großteil der Menschen stirbt im Krankenhaus. Das Hospiz als Alternative gefällt Ute daher. Unheilbare Patienten kommen hierher, um zu sterben. Sie und ihre Angehörigen stehen im Mittelpunkt. „Hospizhilfe bedeutet vor allem, sich Zeit für die Sterbenden zu nehmen“, bestätigt auch Koordinatorin Dietrich.
Einmal pro Woche besuchen die Ehrenamtlichen einen schwerkranken Menschen zu Hause, auf der Palliativstation, im Pflegeheim oder im Hospiz. Eine Begleitung kann wenige Wochen, mehrere Monate oder ein ganzes Jahr dauern. Bis zum Ende eben. Jede Situation ist individuell, so verschieden wie die Menschen selbst. Mal sitzen Lie und Ute am Bett und halten die Hand, mal gehen sie spazieren, lesen das Lieblingsgedicht vor oder besorgen Blumen.
„Im Prinzip sind wir Wunscherfüller“, sagt Lie und drückt ihre Zigarette am Balkongeländer aus. Ute nickt mehrmals und fügt in ihrer betriebsamen Art hinzu: „Oft geht es aber gar nicht um die existentiellen Fragen, sondern darum, einfach da zu sein und zuzuhören.“ Dass dabei auch gelacht wird, ist für die beiden selbstverständlich – tatsächlich teilen sie einen Hang zum morbiden Humor. „Manchmal bringe ich echt Schwung in die Bude“, sagt Lie und lacht.
Die Unbeschwertheit der Studentinnen empfinden viele der Hospizbewohner als angenehm. Obwohl sie schwerkrank sind, wollen sie nicht mit Samthandschuhen angefasst werden. „Wir garantieren ein Stück Normalität“, bringt Ute die Sache auf den Punkt, ohne lange zu überlegen. Sterbebegleitung ist Lebensbegleitung – nur eben auf den letzten Metern.
Klar bleibt trotzdem: Die Hospizgäste und ihre Angehörigen befinden sich in einer Ausnahmesituation. Der Weg in den Tod ist eine erschütternde Erfahrung, egal wie sehr man sich gedanklich auf ihn vorbereitet. Oft leiden die Sterbenden unter Schmerzen, haben Angst vor dem gültigen Abschied und der Ungewissheit danach. Ihre Gedanken, ihre Lebens- und Krankengeschichte teilen sie mit den Ehrenamtlichen.
Dass diese Situation auch belastend sein kann, weiß Dietrich vom Hospiz Schöneberg-Steglitz. „In einem sechsmonatigen Kurs führen wir die angehenden Sterbebegleiter an Themen wie Tod, Abschied und Trauer heran“, erklärt sie. Auch nach der Schulung haben die Ehrenamtlichen einmal im Monat die Möglichkeit, sich auszutauschen, die Situation in der Sterbebegleitung zu reflektieren und bei Bedarf Beratung zu erhalten. Auch eigene Erfahrungen und Ängste stehen im Mittelpunkt.
Neben der inneren Festigkeit erfordere das Amt deshalb vor allem den Mut und die Bereitschaft, sich intensiv mit dem eigenen Selbst auseinanderzusetzen. Denn wer sich mit dem Tod befasst, befasst sich mit dem Leben, auch mit dem eigenen. „Klar machen wir das auch für uns“, bestätigt Ute ohne Umschweife. Die geschenkte Zeit sei keinesfalls verschenkte Zeit, im Gegenteil: Eigene Alltagsprobleme relativieren sich, man wird gelassener, bekommt mehr Selbstvertrauen und lernt das Leben mehr zu schätzen.
Vor allem aber erhält der einzelne Moment einen viel höheren Stellenwert: „Ich lebe wesentlich mehr, seitdem ich diese Arbeit mache“, sagt Lie, ohne dabei in Pathos zu verfallen. „Wenn ich mit Freunden zusammensitze, dann wird der Wein geleert und die Schachtel Kippen weggeraucht, egal was morgen ist“, lacht sie und kommentiert ihr Verhalten selbstironisch: „Meine Lasterhaftigkeit hat total zugenommen, das ist völlig in die falsche Richtung gegangen.“ Ute sieht das ähnlich, auch wenn sie es anders ausdrückt: „Wir sind hier nur auf der Durchreise und nehmen nichts mit. Das wird einem bewusster.“
Beide sagen zwar, dass der Tod nicht weniger traurig und schmerzvoll geworden ist, nur weil man ihm jede Woche begegnet. Aber er wird ein Stück mehr zu einer Facette des Lebens. Durch seine ständige Präsenz verschieben sich bloß die Prioritäten.