„Ob wir an Demenz erkranken, entscheidet sich schon Jahrzehnte vor den ersten Symptomen“

Wenn wir altern, sterben die Neuronen in unserem Hirn ab – wir werden vergesslich. An der FU erforscht Stephan Sigrist präventive Maßnahmen. Ein Gespräch über Demenz, das potentielle Heilmittel Spermidin und die Mechanismen in unserem Körper. Von Leonie Beyerlein

Kleine Lebewesen unter großen Mikroskopen – der Arbeitsplatz von Stephan Sigrist am Institut für Biologie der FU. Foto: Leonie Beyerlein.

Stephan Sigrist ist Professor am Institut für Biologie der FU Berlin und einer der führenden Neurobiologen Deutschlands. Im April 2021 veröffentlichte er gemeinsam mit mehreren internationalen Wissenschaftler*innen eine Studie, die die konkreten Mechanismen hinter dem Einfluss des Moleküls Spermidin auf die Funktionsweise unserer Körperzellen und den Alterungsprozess unseres Gehirns untersucht.

Herr Sigrist, in Ihrer neuesten Studie analysieren Sie den Einfluss von mit Spermidin angereichertem eIF5A auf den Alterungsprozess des Gehirns. Zunächst sollten wir die Fachbegriffe klären. Was sind Spermidin und elF5A? Wofür brauchen wir diese Organismen?

Spermidin ist ein körpereigenes organisches Molekül. Erstmals wurde es etwa 1870 in Sperma entdeckt, daher der Name. Aber es kommt geschlechtsunabhängig in allen lebenden Organismen vor. Spermidin ist hoch positiv geladen und kann sich dadurch gut mit negativ geladenen Molekülen wie der DNA verbinden. Somit kann es die DNA in Sperma kompakt verpacken. Insbesondere aber spielt es eine große Rolle in der Autophagie, dem Selbstreinigungsprozess unserer Körperzellen: Hier werden alte, kaputte Zellen – zum Beispiel Mitochondrien – abgebaut und verwertet. Damit wirkt der Körper einer Alterung des gesamten Organismus entgegen.

Mitochondrien produzieren Energie, dadurch wird Leben überhaupt erst möglich. Für ihr Funktionieren und Fortbestehen benötigen sie Proteine, die durch die Proteinsynthese im Körper neu erschaffen werden. Wie die Proteinsynthese in den Zellen ausfällt, wird wiederum über spezifische Regulator-Proteine, sogenannte Initiationsfaktoren, gesteuert. Unsere Studie zeigt, dass ein sogenannter Initiationsfaktor 5A, kurz eIF5A, die Proteinsynthese zugunsten der Mitochondrien ankurbeln kann.

Wie hängen diese Organismen mit dem Alterungsprozess des Menschen und Demenz zusammen?

Mit dem Alter werden die oben beschriebenen Prozesse ineffizient: zum einen versagen die Mitochondrien, zum anderen funktioniert die Autophagie weniger gut. Die alten, kaputten Zellen und Zellbestandteile, die vermehrt auftreten, werden nicht mehr so schnell abgebaut wie früher. Auf diese Weise altern wir und unsere Körperfunktionen lassen nach.

Es wird vermutet, dass ein vermehrtes Aufkommen überalterter Mitochondrien die Nervenzellen direkt schädigt. Die können im Gegensatz zu anderen Zellen unseres Körpers jedoch kaum reproduziert werden: Wenn sie absterben, kommen keine neuen nach. Dadurch lässt die Gedächtnisleistung mit steigendem Alter häufig nach. Bis zu einem gewissen Grad ist das ein natürlicher Prozess, doch bei Patient*innen mit Demenz sind besonders viele Neuronen geschädigt. Im Extremfall kann das dazu führen, dass manche Betroffenen sogar ihre eigene Biografie vergessen.

Zugleich konnten mehrere Studien herausfinden, dass bestimmte Lebewesen, deren Körperfunktionen auch in höherem Alter intakt bleiben, hohe Spermidingehalte im Blut haben. Normalerweise nimmt aber das natürlich in unserem Körper vorkommende Spermidin mit dem Alter ab. Wir vermuten also, dass durch ein äußeres Zuführen von Spermidin, also durch Nahrung, der Alterungsprozess gebremst und somit die Wahrscheinlichkeit an Demenz zu erkranken, gesenkt bzw. das Eintrittsalter in die Demenz hinausgezögert werden kann.

Welche neuen Erkenntnisse kann Ihre Studie zu der bisherigen Forschung liefern?

Wie bereits erwähnt, kann ein hoher Spermidin-Spiegel die Mitochondrien-Funktion vor vorzeitiger Alterung schützen. Die Frage ist, wie dieser Mechanismus konkret biochemisch funktioniert. Das haben wir uns angeschaut. In der Studie haben wir Fruchtfliegen Spermidin gefüttert und konnten feststellen, dass dies zu einem verbesserten Status der Mitochondrien im alternden Fruchtfliegen-Hirn führte: Die Insekten alterten gesünder und bildeten länger effektiv neue Erinnerungen aus.

Dieser Effekt wird dadurch erzielt, dass mithilfe des Enzyms Hypusinsynthase, das ausschließlich in eIF5A vorkommt, eine kleine molekulare Einheit vom Spermidin auf den Initiationsfaktor eIF5A übertragen wird. Durch diesen Vorgang kann der Alterungsprozess wahrscheinlich positiv beeinflusst werden. Wenn wir hingegen den Prozess auch nur ein wenig stören, wirkt sich das sehr schlecht auf die Mitochondrien aus. Es handelt sich hierbei also um einen sehr feinen und wichtigen Mechanismus.

Wie wirkt Spermidin in unserem Körper?

Wir vermuten, dass Spermidin den Zellen ein Signal gibt, das ihnen vorgaukelt, der Körper befinde sich im Fastenmodus, selbst wenn das gar nicht der Fall ist. Fasten ist wahrscheinlich eine der besten Methoden für einen gesunden Alterungsprozess. Das ist keine neue Erkenntnis: seit Jahrtausenden wird in zahlreichen Kulturen und Religionen auf verschiedene Weise gefastet. Nun häufen sich die wissenschaftlichen Beweise dafür. 

Wie hängen Ernährungsstil und Alterung zusammen?

Eine gesunde Ernährung ist essentiell für ein gesundes und langes Leben. Zudem scheint Fasten den gesunden Alterungsprozess zu fördern. Wenn dem Körper nur in einem bestimmten Zeitfenster Nahrung zugeführt wird – zum Beispiel nur jeden zweiten Tag oder nur zwischen 9 und 17 Uhr –, hat der Insulinspiegel die Möglichkeit, komplett runter zu fahren. Unser Körper kann sich erholen, das wiederum ist gut für unsere Zellen und die Autophagie.

Außerdem scheinen Lebensmittel mit hohem Spermidinanteil sehr förderlich zu sein. Die Mittelmeerküche gilt als eine der gesündesten überhaupt, Menschen auf Kreta oder Sizilien beispielsweise erreichen mitunter eine sehr hohe Lebensdauer. Die dort verwendeten Produkte enthalten vergleichsweise viel Spermidin. Darüber hinaus ist Spermidin vor allem in Weizenkeimen enthalten (24,3 g/kg, Anm. d. Red.).

Gibt es ansonsten Möglichkeiten, einer Demenzerkrankung vorzubeugen?

Am wichtigsten sind soziale Kontakte. Nichts ist so förderlich für Demenz wie Einsamkeit. Außerdem müssen Körper und Geist aktiv bleiben, am besten in Kombination. Das geht zum Beispiel sehr gut durch Musizieren oder Tanzen.

Dabei sollte man schon frühzeitig präventiv vorgehen. In unseren Zellen wird die „Entscheidung“, ob sich eine Demenz entwickelt oder nicht, wahrscheinlich bereits mehrere Jahrzehnte vor dem Eintritt erster Symptome getroffen – zum Teil schon mit Anfang 40.

Spielt die genetische Veranlagung da auch eine Rolle?

Ja. Es gibt Menschen, die viel Alkohol trinken – was sehr schädlich für unseren Körper ist – und dennoch keine Demenz erleiden. Andersherum schließt eine gute Lebensführung nicht aus, dass man in höherem Alter doch erkrankt. Letztlich sind die Fallzahlen sehr hoch: In Europa ist mehr als ein Drittel aller Personen über 90 Jahre von Demenz betroffen.

Ist der Mensch überhaupt dafür gemacht, so alt zu werden?

Vermutlich nicht. Die Evolution ist ja im Grunde nur daran interessiert, dass wir uns fortpflanzen, und nicht, dass wir möglichst lang leben. Dennoch ist unsere life span heutzutage wesentlich länger als unsere health span – wir leben viele Jahre, jedoch setzt der Alterungsprozess schon vergleichsweise früh ein, beispielsweise in Form von Demenz. Mit unserer Forschung möchten wir einen Beitrag dazu leisten, diesen Prozess um ein paar Jahre hinauszuzögern und somit die Leidensdauer unter Demenz zu verkürzen.

Welche Projekte stehen bei Ihnen als nächstes an?

Unter anderem wollen wir den Mechanismus zwischen Spermidin und Proteinsynthese noch besser verstehen und die aktuelle Studie weiter ausbauen. Darüber hinaus planen wir gerade eine größere Studie in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Institut für Ernährungsforschung Potsdam-Rehbrücke. Da wollen wir den Zusammenhang zwischen Spermidin und dem menschlichen Immunsystem an Diabetes-Patient*innen untersuchen. Diese Studie wird wesentlich größer als die aktuelle und voraussichtlich bis zu zwei Jahre andauern.


Zum Weiterlesen  – das kleine Neurobio-Einmaleins:

eIF5A

eIF5A steht für eukaryotischer Initiationsfaktor 5A. Eukaryoten sind Organismen mit einem Zellkern, der einen Großteil der Erbinformationen enthält, und zeichnen den Großteil aller Lebewesen aus. Initiationsfaktoren sind Proteine, die unterstützend an der Initiation der Proteinsynthese beteiligt sind. Das Protein eIF5A ist das einzige, welches das Molekül Hypusinsynthase enthält.

Hypusinsynthase

Hypusinsynthase ist eine Aminosäure, die maßgeblich an der Proteinsynthese beteiligt ist.

Proteinsynthese

Proteinsynthese ist ein Prozess, bei dem die in der mRNA, dem Botenstoff der DNA, enthaltene Erbinformation in die Aminosäuren der Proteine “übersetzt” wird. Es ist einer der elementarsten körpereigenen Prozesse für die Erzeugung und Erhaltung von Leben.

Spermidin

Spermidin ist ein körpereigenes Molekül, das beispielsweise in Sperma vorkommt und dort die männliche DNA kompakt verpackt. Zudem ist es maßgeblich an der Autophagie beteiligt.

Autophagie

Autophagie ist der Selbstreinigungsprozess unserer Körperzellen. Hier bauen die Zellen ihre eigenen kaputten und alten Bestandteile ab und verwerten sie. Dank der Autophagie altern Lebewesen langsamer.

Mitochondrien

Mitochondrien sind Bestandteil aller eukaryotischen Zellen. Sie erzeugen Energie, wodurch Leben überhaupt erst möglich wird. Je mehr Energie eine Zelle benötigt, desto mehr Mitochondrien enthält sie. Daher sind Mitochondrien vor allem in Nerven-, Muskel- und Sinneszellen enthalten.

Demenz

Demenz ist eine der häufigsten Alterskrankheiten, bei der sich aufgrund abgestorbener Nervenzellen die Merkfähigkeiten der Betroffenen mit der Zeit immer stärker verschlechtern. Weitere Symptome neben Gedächtnisstörungen sind Beeinträchtigungen in der Wahrnehmung, Sprache und Aufmerksamkeit sowie dem Denkvermögen. Die am häufigsten auftretende Demenzform ist Alzheimer.

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