Nightline Berlin: Berlin, was willst du von mir?

Vor zwei Jahren fing Annika Böttcher an, sich ehrenamtlich bei der Nightline Berlin e.V. zu engagieren, einem Zuhörtelefon von und für Studierende. Ihre anonyme Zeit im Team ist nun vorbei – und sie hat die Gelegenheit genutzt, zwei ihrer ehemaligen Kolleg*innen noch einmal zu treffen und mit ihnen über ihre Erfahrungen und aktuelle Tendenzen in der Telefonarbeit zu sprechen.

Die Frage der Fragen auf den Postkarten des Nightline Berlin e.V. Foto: Annika Böttcher.

Inhaltshinweis: Suizid.

Diesen Artikel zu schreiben ist nur möglich, weil ich kein Mitglied der Nightline Berlin mehr bin – denn wer sich nachts den Hörer ans Ohr klemmt, arbeitet anonym und unterliegt der Schweigepflicht. Anrufende und Angerufene bleiben so gleichermaßen unerkannt und sollen die Niedrigschwelligkeit des Gesprächsangebots garantieren. Bei der Nightline handelt es sich um ein Zuhörtelefon von und für Studierende. Das Konzept kam in den 1990er Jahren aus England nach Deutschland und ist heute international vertreten und über den Dachverband der Nightline Association organisiert. Alle Initiativen eint, dass sie sich fünf Kriterien in ihrer Arbeitsweise verpflichten: Vertraulichkeit, Anonymität, Werte- und Vorurteilsfreiheit, Non-Direktivität sowie Nicht-Beratung. Dass alle Ehrenamtlichen an  einer Uni eingeschrieben sein müssen, soll also ein Gespräch auf  Augenhöhe ermöglichen.

Viele im Team studieren außerdem Psychologie. Allerdings sind die Nightlinerz, wie sich die Telefonist*innen und Mitglieder aus den Bereichen PR, Finanzen und  Vorstand nennen, keine ausgebildeten Fachkräfte. „Die Hoffnung, dass das hier eine Therapie-Übung ist, müssen wir bei interessierten Neuzugängen deshalb oft enttäuschen”, sagen Samira und Leo, die eigentlich anders heißen und in verschiedenen Bereichen der Nightline Berlin aktiv sind. „Wir haben keinen professionellen Anspruch, sind kein Beratungsangebot, sondern hören zu und versuchen zum Beispiel durch Fragen zum Nachdenken anzuregen. Trotzdem haben wir bestimmte Fähigkeiten, erlernte Techniken und üben während Schulungen und Intervisionen mit Gesprächssituationen aller Art umzugehen. Unser Ziel ist, den Anrufenden zuzuhören, bevor ein Thema zum ernsten Problem wird.” 

Dieses Vorhaben gelingt nicht immer. Es rufen auch Menschen an, denen die Nightline nicht helfen kann. In diesem Fall können die Telefonist*innen die Anrufenden dabei unterstützen, ein passendes und eventuell professionelles Hilfsangebot zu finden. Häufig ist aber das Hemmnis, bei der Nightline anzurufen, niedriger als beispielsweise bei Psycholog*innen und birgt so die Chance, ernste Probleme abzuwenden. 

Wie auch viele Anrufende fühlte Samira sich während der Corona-Zeit oft einsam. „Ich hatte aber Menschen um mich, mit denen ich mich austauschen konnte”, sagt sie. Dass nicht alle ein solches Support System haben, wurde ihr besonders klar, als ein enger Freund Suizid beging. Auch bei Leo sorgten persönliche Erfahrungen und die Erkenntnis, dass nicht alle jemanden um sich haben, mit dem sie ihre Anliegen besprechen können, dafür, sich bei der Nightline zu engagieren. Er war zunächst in einer anderen Stadt aktiv und gehörte nach seinem Umzug nach Berlin zum hiesigen Gründungsteam. 

Während und auch nach den Lockdowns wegen der Corona-Pandemie hat sich einiges getan: Die gesamte Arbeit des Telefonservices wurde ins Digitale verlagert, was Vorteile wie das Wegfallen der Anfahrt zum Büro mitten in der Nacht und Nachteile wie das Ausbleiben von persönlichen Kennenlernen mit sich brachte. Vor allem letzteres sei, so meine beiden ehemaligen Mitstreiter*innen, schade und demotivierend besonders für neue Teammitglieder. Dennoch habe die Nightline die Zeit gut überstanden und sich sogar vergrößert. Dank Zuwachs an Ehrenamtlichen konnte das Angebot von zwei auf drei Tage pro Woche erweitert werden, die Online-Werbung wurde angekurbelt und auch Sticker- oder Briefkasten-Aktionen etwa in Studierenden-Wohnheimen konnten ausgedehnt werden. 

Obwohl die meisten Restriktionen mittlerweile aufgehoben wurden, ist Corona noch immer ein wichtiges Thema: Während es zuvor oft um die Isolation gegangen sei, sprächen Anrufende  heute häufig über das, was die Pandemie hinterlassen hat und wie schwierig sich der Einstieg ins „normale” Leben gestaltet. Die Zahl der Anrufe ist zwar bereits seit der Gründung im September 2020 stetig gestiegen und steigt auch weiter, hat über die Lockdown-Zeiten allerdings einen größeren Zulauf erlebt als gewöhnlich. Samira und Leo werten diese Entwicklung aber keineswegs negativ, sondern sehen darin vor allem den Erfolg der größeren Werbekampagnen im letzten Herbst und die Bereitschaft der Anrufenden, sich mit ihren Problemen auseinanderzusetzen. 

Jetzt ist die Freude über Präsenz-Dienste und außerdienstliche Treffen groß: Gerade bei schwierigen Telefonaten sei ein Austausch mit den Dienstpartner*innen in Präsenz besser geeignet als online. Und auch wenn das digitale Ehrenamt manches Mal leichter mit dem Alltag zu verbinden gewesen sei – die räumliche Trennung von Arbeit und Privatleben helfe vielen auch beim persönlichen Umgang mit den vielen Themen der Anrufer*innen, die nebst der Pandemie natürlich trotzdem da waren: Unistress etwa, Zukunftsängste, Probleme in Beziehungen jeder Art, die Herausforderung, sich in Berlin und im Studium zurechtzufinden. 

Was Samira und Leo sich für die Nightline Berlin wünschen? „Viele weitere Nachteulen!”, lachen sie. „Und auch, wer lieber tagsüber aktiv ist, findet einen Platz bei der PR, den Finanzen, Schulungen oder der Organisation des Teams – ohne all das funktioniert auch der Telefondienst nicht.” 

Auf den Postkarten, die die beiden nach unserem Treffen auf dem Campus verteilen, stehen in blauer und weißer Schrift Fragen und Sätze, die die Situationen vieler Anrufenden aufgreifen und ermutigen sollen, die Berliner Nightline-Nummer einmal zu wählen: „Redebedarf? Wir hören zu.”, „Ich kann mich einfach nicht entscheiden.”, „Warum seid ihr alle so perfekt?” oder „Berlin, was willst du von mir?” Vielleicht ja einen Anruf voller Fragen?


Erreiche die Nightline Berlin hier:

Telefonnummer: (030) 2093 70666

Website: Nightline Berlin – (030) 2093 70666 (nightlines.eu) 

Instagram: Nightline Berlin (@nightline.berlin) • Instagram-Fotos und -Videos 

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