Ist Moabit nun im Kommen oder nicht? Hanna Sellheim hat versucht, dieser Frage ein für alle Mal auf den Grund zu gehen. Dafür stattete sie dem „Kapitel 21“ einen Besuch ab – mit gemischten Gefühlen.
Wer dort aussteigt, wo Perleberger und Lehrter Straße sich kreuzen, hat erst einmal mit der inneren Leere zu kämpfen, die sich angesichts der ihn umgebenden Trostlosigkeit auftut. Es grüßen ringsum mit hässlicher Fratze: ein miefiges Matratzengeschäft, ein Billig-Schuhladen und die ferne Reklame eines Baumarkts. Nachdem wir den Kloß im Hals besiegt haben, schlagen wir uns hinein in die Lehrter Straße.
Schon von weitem sieht der Suchende die Trost spendende bunte Lichterkette vor dem Eingang und weiß, er ist am Ziel. Die Fensterfront der Bar ist bedeckt von kleinen, weißen Zeichnungen, die auf den ersten Blick sehr schön aussehen und auf den zweiten sehr verstörend. Nämlich dann, wenn man darin den nackten, dicken Mann mit der Ku-Klux-Klan-ähnlichen Maske entdeckt, dessen linker Finger auf das Wort „Party“ deutet.
Karten-Kampf und Moabit Mule
Herinnen ist es schon um halb 9 geradezu lächerlich voll. Die meisten Gäste sind hier unter 30 oder sehnen sich zumindest wieder in dieses Alter zurück und haben deshalb ihre Base-Cap besonders schief auf dem Kopf sitzen. Die Bedienung ist mit dem großen Andrang heillos überfordert und taucht erst nach etwa einer halben Stunde mit Getränkekarte und gehetztem Blick an unserem Tisch auf. Dabei erklärt sie freundlich, dass es insgesamt sowieso nur zwei Karten gebe – diese seien aber von einem Künstler gestaltet. Hübsch anzusehen ist das durchaus: Der Umschlag aus Holz, mit einer ähnlichen Zeichnung versehen wie das Fenster. Doch viel Zeit zur Betrachtung bleibt nicht, während man versucht, in Windeseile Getränke auszuwählen, wissend, dass die anderen Gäste mit durstigen Blicken auf die rare Karte lauern.
Und das ist gar nicht so leicht, denn die Auswahl ist riesig: Es gibt zahlreiche Sorten Bier, eine Reihe Long Drinks und die Auswahl für Gin und Tonic erstreckt sich über drei Seiten. Auch ein paar Snacks gibt es für diejenigen, deren hungrige Mäuler mit den Gratis-Salzstangen auf dem Tisch nicht gestopft werden können.
Während wir auf unsere Getränke warten, bleibt Zeit für eine Runde Monopoly, das Lösen einer Gleichung fünften Grades mit der Polynomdivision und den Bau eines Kartenhauses. Dafür kosten sie um einiges weniger als in der Berliner Durchschnittsbar. Außerdem ziert den Gin Tonic ein welkes Zweiglein Rosmarin und der Moscow Mule nennt sich hier extravagant „Moabit Mule“. Wer dabei eine Getränke-Innovation erwartet, wird jedoch enttäuscht: Der einzige Unterschied zur herkömmlichen Variante scheint darin zu bestehen, dass im Glas sowohl Gurke als auch Orange schwimmen. Beide Getränke sind jedoch perfekt gemixt und auch das Bier vom Fass schmeckt gut.
Unterm Glühbirnenhimmel
Während wir die ersten Schlucke nehmen, lohnt es sich, den Blick im Raum schweifen zu lassen. Die Deko ist liebevoll – an der Decke schweben dutzende Glühbirnen, die sanftes Licht auf ein Ambiente voll von alten Radios und plüschigen Lampen werfen. Die Wände zieren Bilder, die auch zum Verkauf stehen – sie zeigen größtenteils geometrische Formen und tragen geistreiche Titel wie „Kreis“ oder „Dreieck“. Gesehen hat man das zwar schon genauso in ungefähr jeden anderen Bar in Berlin, trotzdem scheint hier ein kundigerer Inneneinrichter am Werk gewesen zu sein, der beim Interieur die Stimmigkeit der Trashigkeit vorgezogen hat.
Die Stimmung ringsum ist ausgelassen, dank Sofas und kleinen Tischen herrscht eine gemütliche Atmosphäre. Auch die Bedienung ist nett und gibt sich alle Mühe, der Überfüllung Herr zu werden. Nach einem schönen Abend stolpern wir hinaus in die milde Moabiter Nachtluft – nicht ohne vorher noch einen Schnaps aufs Haus angeboten zu bekommen.
Stimmung: 4/5
Einrichtung: 4/5
Bedienung: 3/5
Geschmack: 5/5
Preis: 4/5
Die Preise lassen sich ertragen: Longdrinks kosten 5,90 Euro, ein kleines Bier vom Fass 2,90 Euro.
Das „Kapitel 21“ findet ihr in der Lehrter Straße 55, 10555 Berlin.
www.kapitel21.de