Das Seminar „kitchen talks“ bringt Literaturstudierende mit russischen Exilkünstler*innen zusammen. Der Raum spielt dabei eine wichtige Rolle, wie Lukas Rameil miterlebte.
Gesprächsfetzen wabern dumpf durch den weitläufigen Raum. Teller scheppern und Gläser klirren aus allen Ecken. Die letzten Teilnehmer*innen des Seminars „kitchen talks“ treffen in der Pizzeria am Senefelder Platz ein und setzen sich eilig zu ihren Kommiliton*innen. Verdutzte Blicke treffen sich. Derweil diskutieren die verantwortlichen Professor*innen, Georg Witte (FU) und Susanne Strätling (Uni Potsdam), mit dem Schriftsteller Wladimir Kaminer über die verhängnisvolle Akustik. Kaminer ist Autor von Erzählbänden wie „Russendisko“ und „Schönhauser Allee“, Russland-Experte in deutschen Talkshows und an diesem Dienstagabend Gastgeber von „kitchen talks“.
Die russische Migration nach Berlin nahm in den 1920er Jahren ihren Anfang, damals waren es die vor dem gesellschaftlichen Klima fliehende Aristokratie und Intelligenzija. Heute, dank der wiedergewonnenen kulturellen Strahlkraft, lassen sich vor allem Teile der russischen Bohème in der Stadt nieder. Die Slawist*innen Witte und Strätling wollen aus diesem Potenzial schöpfen. Die Idee: Studierende treten in Dialog mit russischen Künstler*innen, um deren „Kunst und Lebenspraxis“ zu untersuchen, wozu auch der Raum als „Akteur ästhetischen Handelns“ integriert werden soll. Die Sitzungen finden deshalb nicht im sterilen Seminarraum statt, sondern in Ateliers, Werkstätten oder auch in privaten Wohnungen der Künstler*innen. Zweifel an Kaminers auserwähltem Veranstaltungsort gab es daher im Vorhinein, ob das gut gehen und der Raum so überhaupt seine Wirkung entfalten kann.
Eigendynamik statt Struktur
Zwei Student*innen haben sich vorbereitet und beginnen der Lautstärke trotzend mit der Einführung, richten erste Fragen an Kaminer. Im Idealfall mündet dieses nüchterne Frage-Antwort-Spiel in einem offenen Dialog. Witte erklärt: „Es ist unser Ziel, den Gesprächen eine Eigendynamik zu geben.” Teilnehmer Dimitri Vinogradov ergänzt, dass ein dynamischer Austausch immer dann gelinge, wenn die meisten aufgetaut sind, erfahrungsgemäß ab der Hälfte.
„Also Herr Kaminer, wie geht Geschichten sammeln, wo liest man sie auf und was ist daran erfunden?“ Kaminer zögert, räuspert sich: „Ich könnte viel dazu sagen, aber es macht keinen Sinn“. Lachen, kurze Pause, ein Schluck Wein – dann ein neuer Versuch: „Ist Geschichten sammeln in Russland und Deutschland das Gleiche?“ „In Russland ist alles schwerer“, ein verschmitztes Lächeln huscht über sein Gesicht, dann eine halb-poetische Antwort: Länder seien irrelevant und unbeständige Kulisse, beschaffen wie ein Fluss. Die Gruppe quittiert schmunzelnd.
Akustik verhindert intensiven Austausch
Neben lakonischen Antworten gibt Kaminer auch Anekdoten zum Besten: Der Frage, ob Ironie Grenzen kenne, entgegnet er mit einer tragisch-skurrilen Geschichte über einen Mann, der schwer erkrankte und sich in seiner Verzweiflung von einem chinesischen Arzt „kommunistische Föten“ in den Kopf pflanzen ließ. Angestrengte Gesichter unter den Zuhörer*innen, die vor allem an den Rändern der Lautstärke wegen Mühe haben zu folgen. Lippenlesen hilft.
Nach anderthalb Stunden werden dieselben Ränder unruhig und die ersten sind im Begriff aufzubrechen, der „kitchen talk“ wird offiziell beendet. Es war ein durchwachsener Abend, der allein schon durch die störende Akustik keinen richtigen Dialog zuließ. Das Potential des Projekts wurde dennoch sichtbar: An der Begegnung im Uni-kontextlosen Raum haftet nichts von Lehre und wissenschaftlichen Konventionen, sie ist daher – auch unter erschwerten Bedingungen – befreiter, und fruchtbarer.